Ersatzfreiheitsstrafe für Arme: Im Kampf gegen die Klassenjustiz

Ein Mann sitzt im Gefängnis, weil er kein Geld hat. Es müsste sich was ändern, sagt er – und ist mit der Forderung nicht allein.

Ein Mann in blauer Häftlingskleidung auf einem Gefängnisflur

Ein Insasse der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee auf dem Flur vor seiner Zelle Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | Der Weg zu Mathias Grimm führt durch surrende Sicherheitsschleusen, vorbei an Mauern mit Stacheldrahtkronen, vergitterten Fenstern und Beamten mit Schlüsseln, die nicht fotografiert werden dürfen. Ganz klar, das ist ein echtes Gefängnis. Aber ist Grimm, dessen Name für diesen Text geändert wurde, auch ein „echter Häftling“?

Er trägt blaue Häftlingskleidung, die Haare kurz. Still sitzt er in der Zelle mit der kleinkarierten Bettwäsche und dem Klo gleich hinter der Tür. Zum achten Mal ist der 38-Jährige in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Immer wegen nicht bezahlter Geldstrafen fürs Fahren ohne Ticket.

Diesmal sind es 100 Tagessätze, einen Teil wird er in dem Berliner Gefängnis abarbeiten. Grimm ist schwerer Alkoholiker. An die Nacht, in der ihn Polizisten hierherbrachten, kann er sich nicht erinnern. „Ich trinke, um die Psyche wegzukriegen“, sagt Grimm. Deshalb ist er hier gelandet, im Knast.

Er ist einer von zehntausenden Menschen, die in Deutschland 2022 eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen mussten, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Eine genaue Zahl gibt es nicht, sie wird nicht erhoben. Manche sitzen einige Tage ein, manche Monate. Die Ersatzfreiheitsstrafe sollte eigentlich die Ausnahme sein, Ultima Ratio für zahlungsunwillige Menschen mit kleinen Vergehen. Inzwischen sind die Gefängnisse voll mit Menschen wie Mathias Grimm.

Für Armut bestraft

2022 hat der Jurist und Journalist Ronen Steinke ein Buch veröffentlicht. In „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ berichtet er von einer „neuen Klassenjustiz“. 80 Prozent aller Strafen sind inzwischen Geldstrafen. Arme Menschen werden dabei häufiger und ungleich härter bestraft, und sie sind es auch, die immer häufiger im Gefängnis landeten, prangert Steinke an. Das Buch wurde ein Bestseller.

„Dass sich seit vielen Jahren nichts Grundsätzliches an der Ersatzfreiheitsstrafe ändert, obwohl die Diskriminierung armer Menschen lange bekannt ist, zeigt, dass die Regierungsparteien damit offenbar kein großes Problem haben“, sagt Arne Semsrott, Gründer des Freiheitsfonds. Die Initiative kauft mit Spenden Menschen frei, die im Gefängnis sitzen, weil sie mehrfach ohne Fahrschein erwischt wurden. 637 seien es bislang, knapp 45.000 Hafttage mussten nicht abgesessen werden.

An der Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein lasse sich gut veranschaulichen, wie ungerecht das System sei, sagt Semsrott. „Deswegen konzentrieren wir uns darauf.“ Für den 15. März ruft der Freiheitsfonds zum nächsten Freedom Day auf: Gefangene sollen bundesweit befreit werden.

Für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen

Die Initiative ist Teil eines breiten Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen. Auch Mitali Nagrecha gehört dazu. Die amerikanische Juristin vermutete im deutschen System eine Alternative zur Ungerechtigkeit in den USA. Doch was sie fand, bezeichnet auch Nagrecha als „ein System von Klassenjustiz“.

2021 gründete sie das Justice Collective, das als Teil des Bündnisses für ein gerechteres Justizsystem kämpft. Minimalziel ist die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein. „Die politische Diskussion hinkt der öffentlichen hinterher“, sagt Nagrecha zu den aktuellen Bemühungen der Ampelkoalition. Es gebe ein politisches Festhalten an Bestrafung, das die Öffentlichkeit gar nicht verlange. „Die Gesellschaft ist bereit für Reformen“, ist Nagrecha sich sicher.

Zurück hinter die Mauern der Justizvollzugsanstalt. Nur in dieser Enge schaffe er es, trocken zu bleiben, sagt Mathias Grimm. „Da draußen ist der Alkohol.“ Der lässt ihn die schwere Kindheit vergessen, aber auch aus Wohneinrichtungen fliegen und ohne Ticket in die U-Bahn steigen. Hier drinnen, nach dem harten Entzug gehe es ihm für kurze Zeit etwas besser, sagt er.

Dass Strafen wie die von Mathias Grimm unverhältnismäßig sind, darin sind sich die meisten Praktiker*innen, Ju­ris­t*in­nen und die Ak­ti­vis­t*in­nen einig. „Da muss sich was ändern“, sagt auch Grimm. Aber die Welt, die sich hinter den Mauern von Gefängnissen wie Plötzensee offenbart, stellt noch ganz andere Aufgaben an die Politik als eine Überarbeitung des Strafgesetzbuchs. „Wie grausam man das Leben in Unfreiheit findet, hängt auch davon ab, wie grausam das Leben in Freiheit ist“, schreibt Ronen Steinke in seinem Buch.

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