Diebstahl als Gerechtigkeit: Warum ich gerne klaue
Klauen gilt als unmoralisch. Dabei ist es ein Schlag gegen ein System, das Waren mehr respektiert als Menschen. Eine Ode an den Fünf-Finger-Rabatt.
Vor ein paar Wochen gab es in Norwegen Aufregung, die hierzulande nicht mehr als eine lustige Randnotiz war. Bjørnar Moxnes, der Vorsitzende der norwegischen sozialistischen Partei Rødt, ist von seinem Amt zurückgetreten, weil er dabei erwischt wurde, wie er am Flughafen eine Sonnenbrille von Hugo Boss geklaut hat. Hat er es überhaupt nötig zu klauen, fragten viele. Ich frage mich viel eher: Warum am Flughafen? Das ist wahrlich nicht der beste Ort für Diebstahl.
Und damit kenne ich mich aus. Ich bin Mitte 30, arbeite Teilzeit in einer Behörde und lebe in einer Altbauwohnung mit einem sogenannten alten Mietvertrag. Trotzdem geht fast die Hälfte meines Gehalts für Miete drauf. Auch ich habe es nicht unbedingt nötig, aber ich klaue gerne. Nicht weil ich etwa Kleptomanie habe, sondern weil es mir ein Gefühl von Ausgleich gibt. Es ist aufregend, es beruhigt mich und vor allem finde ich es gerecht. Denn eine Praxis, die wir normalerweise Jugendlichen in ihren rebellischen Antiphasen oder in einer Notlage zuschreiben, kann auch kapitalismuskritische Praxis sein.
Neun Euro für Olivenöl, 8 für Kaffee, ein Granatapfel kostet 3 Euro und eine Mango manchmal 4 Euro. Gesund ernähren ist für Gutverdiener:innen. Nicht umsonst gibt es inzwischen ein Twitter-Genre, in dem Leute ihren Einkauf auf dem Warenband zeigen und man schätzen soll, was dafür bezahlt werden musste. Natürlich erscheint einem das Ergebnis jedes Mal als unglaubliche Frechheit.
Doch diese Limitation, die man im Laden spürt und die in allen Facetten auf gesellschaftlicher Ungerechtigkeit basiert, kann ich nicht akzeptieren. In diesem Land soll es der Wirtschaft gut gehen und nicht den Menschen, deshalb wird Reichtum geschützt und Sozialpolitik gegen arme Menschen gemacht. Ich brauche nicht jeden Monat neue Kleidung, aber wenn ich neue Kleidung brauche, dann möchte ich dafür nicht am Essen sparen müssen. Das Problem lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, deshalb muss ich mich als Individuum in diesem kapitalistischen System zurechtfinden.
Im Juni dieses Jahres gab das EHI Retail Institut, ein Forschungs- und Bildungsinstitut für den deutschen Handel, eine Studie heraus, die einen Anstieg der Verluste durch Ladendiebstahl feststellte. Gemessen wird das durch die Inventurdifferenzen, die auf Diebstahl durch Kundschaft, Beschäftigte, Servicekräfte und Liefernde zurückzuführen sind. Der Anteil des Verlusts, der sich für den gesamten deutschen Handel aus Diebstahl ergibt, ist von 12 auf 15 Prozent gestiegen. Das bedeutet, im Jahr 2022 wurden Waren im Wert von 3,73 Milliarden Euro gestohlen. Also gut 30 Euro pro Bürger:in jährlich.
Die Zahlen sind damit wieder auf einem ähnlichen Niveau wie vor der Coronapandemie. Der Autor der Studie, Frank Horst, kommt trotzdem zu dem Schluss, „dass wieder vermehrt Langfinger ihr Unwesen in den Einkaufsstraßen treiben“, und „dass der Anstieg der Ladendiebstähle nach wie vor eine große Gefahr darstellt“.
Das Bild des notorisch kriminellen „Langfingers“ wird genutzt, um eine Gefahr darzustellen. Doch wer ist denn eigentlich die Gefahr in diesem Land? Diebstahl wird kriminalisiert, aber würden wir stattdessen Löhne kriminalisieren, die nicht zum Leben ausreichen, gäbe es vielleicht gar nicht so viele „Langfinger“. Doch die Ausbeutung der Menschen wird hierzulande niemals kriminalisiert werden, schließlich steht hier das Wohlergehen der Wirtschaft immer über dem Wohlergehen der Menschen. Ich halte Reichtum für gefährlicher als Diebstahl. Und vor allem für moralisch fragwürdiger.
Wenn ich klaue, gibt es aber Regeln. Ich klaue nicht von Menschen oder in kleinen inhabergeführten Läden, sondern von Konzernen. Ich will niemandem was wegnehmen, außer denen, die eindeutig zu viel haben und die es gar nicht merken. Im Einzelhandel sind Verluste mit einkalkuliert und zwar in den Preisen. Man kann daraus schlussfolgern, dass andere Kund:innen also für einen Diebstahl mitbezahlen, aber in dieser Logik muss man dann auch daran glauben, dass die Preise sinken, wenn weniger geklaut wird.
Natürlich bin ich privilegierte Diebin. Ich bin nicht dazu gezwungen, zu klauen, und aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung brauche ich weniger Angst vor einer Bestrafung zu haben als eine Person, die aus der Not heraus klaut.
Ich klaue beim täglichen Einkauf. Dabei packe ich alle Lebensmittel in meinen Jutebeutel und am Kassenband vergesse ich dabei, ein paar aufs Band zu legen. Sollte das jemandem auffallen – und das war noch nie der Fall –, kann ich einfach sagen, dass ich es verschusselt habe. Wer Lebensmittel in seine Jackentasche steckt, kommt damit nicht durch.
Aufgeregt bin ich beim Klauen schon lange nicht mehr, und dahinter versteckt sich auch die Kunst, sich so zu verhalten, dass es dir niemand ansieht, dass du gerade etwas Verbotenes tust.
Auf Sicherungen sollte man achten und sie entfernen, einfach im Gehen fallen lassen oder auf ein anderes Produkt kleben. Das fällt niemandem auf. Außer vielleicht dem Ladendetektiv, den man daran erkennt, dass er sehr gemütlich und mit viel Zeit durch die Gänge schlendert. Er hat nichts aus den (Tief-)Kühlschränken im Wagen und guckt viel zu lange auf Produkte. Bleiben da die Kameras, doch in der Regel haben Supermärkte nicht so viele personelle Ressourcen, um jemanden dafür zu bezahlen, tatsächlich die ganze Zeit auf die Bildschirme zu schauen.
Ich klaue auch online. Ich bestelle mir Sachen, die in den meisten Fällen in den Hausflur gestellt werden. Das liegt natürlich wiederum an den fatalen Arbeitsbedingungen der Paketzusteller:innen, die einfach keine Zeit haben für die persönliche Zustellung mit Unterschrift. Aus dieser Ungerechtigkeit drehe ich meinen Vorteil. Ich hole mein Paket aus dem Hausflur, sage der Firma, dass nichts angekommen ist, und bekomme mein Geld zurück. Die Paketzusteller:innen haben dadurch keinen Nachteil, da das mit der Firma des Produkts geklärt wird und nicht der Versanddienstleister dafür aufkommen muss.
Ich klaue auch Mobilität, das heißt, ich zahle kein Geld für öffentliche Verkehrsmittel. Ja, auch das 49-Euro-Ticket ist mir zu teuer. Stattdessen setze ich mich in Bussen und Bahnen immer in die Nähe der Tür, damit ich schneller rauskann, falls Kontrolleur:innen einsteigen. Die kann man immer gut erkennen, auch wenn sie zivil unterwegs sind. Es sind vier Erwachsene mit kleinen Umhängetaschen (da sind die Kontrollgeräte drin), die sich an der Haltestelle aufteilen, um durch jeweils eine andere Tür einzusteigen.
Wenn man im Laden jemanden sieht, der oder die gerade klaut, stellt sich bei Menschen manchmal dieses Gefühl ein: Frechheit! Denn wir haben gelernt: Klauen gehört sich nicht. Aber genauso, wie man in der Bahn immer besonders lang zum Ticket-Raussuchen brauchen sollte, damit Leute ohne Ticket wertvolle Zeit erhalten, um auszusteigen, kann man beim Beobachten von Dieben auch denken: Respekt, dass du diesen Weg findest in einem System, in dem Waren mehr wert sind als dein Wohlbefinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs