Die AfD und die Sozialpolitik: National, neoliberal, nicht sozial
Die AfD inszeniert sich in der Wirtschaftskrise als Partei der „kleinen Leute“. Das ist Etikettenschwindel, sie steht für Umverteilung von unten nach oben.
M aximilian Krah steht in der Stadthalle von Rottweil, Baden-Württemberg, und scheint sein Herz für die sogenannten kleinen Leute zu entdecken. Der EU-Abgeordnete der extrem rechten AfD, blonder Seitenscheitel, weißes Hemd, dunkles Sakko, schlägt bei seiner Rede plötzlich einen mitfühlenden Ton an, zuvor hat er antiliberale Witze über Geschlechterdiversität gerissen und die 1.000 überwiegend älteren Herren im Publikum unter johlendem Applaus dazu aufgerufen, sich von „den Fesseln der politischen Korrektheit“ zu befreien.
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Er sei Sohn einer Sonderschullehrerin, sagt Krah nun mit gedämpfter Stimme und spricht in die entstandene Stille über Solidarität. Aber die gilt nur für Deutsche: „Wenn Sie heute in eine Sonderschule gehen – auch in Sachsen – haben sie über 50 Prozent Ausländer“, behauptet er. Kinder hätten wegen Mobbing Angst vor den Pausen, im Unterricht würde nur noch gemalt, weil niemand deutsch spreche. „Sie haben den Anspruch auf Solidarität, weil auch sie zu uns gehören.“ Dann ruft er: „Wir sind ein Volk, und deshalb lassen wir die Schwachen nicht zurück!“
Krah appelliert an Abstiegsängste: „Wir gehören zusammen und deshalb sind wir solidarisch: Wer jetzt als Verkäuferin arbeitet, als Busfahrer, weiß der noch, wie er seine Nachzahlungen der Energiekosten leisten kann? Ist der Kühlschrank noch bis zum Monatsende voll?“ Sozialpopulistische Rhetorik ist seit über einem Jahr fester Bestandteil in Reden der AfD. Denn in dieser Zeit ist viel passiert: Russlands Krieg gegen die Ukraine, Energiekrise und jetzt AfD-Umfragehoch.
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Krah, erzkatholischer AfD-Bundesvorstand und Dresdner Rechtsanwalt, ist auf Wahlkampftour kurz vor dem AfD-Europaparteitag Ende Juli in Magdeburg. Er ist der designierte Spitzenkandidat für die Europawahl 2024. In Rottweil spricht er auf Einladung des Landtagsabgeordneten Emil Sänze zusammen mit dem Who’s who der völkischen-nationalistischen Strömung, die längst AfD-Mainstream ist: Björn Höcke ist da, ebenso Parteichef Tino Chrupalla.
Der Kandidat und sein Manifest
Krah verkörpert das neue Selbstvertrauen der AfD angesichts gewonnener Landratswahl von Sonneberg und Umfragehoch derzeit wie kaum jemand anderer. Voriges Wochenende stellte er beim Sommerfest der als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften neurechten Denkfabrik Schnellroda sein im Verlag des rechten Strategen Götz Kubitschek erschienenes Buch vor. Es trägt den Titel „Politik von rechts. Ein Manifest“.
Auf einem Podium mit Kubitschek erörterte Krah bei dem Fest, warum die AfD momentan „die spannendste Rechtspartei Europas“ sei: „Weil überall der falsche Lehrsatz gilt: Wenn man Prozente haben will, muss man sich inhaltlich anpassen. Aber wir als AfD zeigen zurzeit, dass wir doch mit einem inhaltlichen Kurs diese Ergebnisse erzeugt haben.“ Dieser Kurs ist das ungenierte Bekenntnis zum Rechtsradikalismus, der die Verfassungsschutz-Einstufung wie ein Abzeichen für Fundamentalopposition trägt.
Inhaltlich verknüpft der Kurs rechten Kulturkampf mit uneinlösbaren Friedensforderungen und oberflächlicher Sozialrhetorik. Die AfD inszeniert sich besonders in der Energiekrise als Partei der „kleinen Leute“, schürt Verlustängste und gibt auf Verteilungsfragen rassistische Antworten. Zusammen mit gesellschaftlich vorhandenen autoritären und rassistischen Einstellungen reicht das in Krisenzeiten offenbar, um Arbeitnehmer*innen und Angestellte – mittlerweile die Hauptwählerschaft der AfD – zu mobilisieren.
Aber die bereits 2016 vom Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland ausgerufene Abkehr von der „neoliberalen Professorenpartei“ hin zur „Partei des kleinen Mannes“ ist auch 2023 noch ein Etikettenschwindel. Die AfD setzt auf Sozialneid, spielt dabei die verschiedenen Gruppen „kleiner Leute“ gegeneinander aus. Die programmatischen Forderungen der AfD bedeuten letztlich Umverteilung von unten nach oben.
Holger Stichnoth, Wirtschaftswissenschaftler
Holger Stichnoth ist Wirtschaftswissenschaftler vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW in Mannheim. Er leitet die Forschungsgruppe „Ungleichheit und Verteilungspolitik“. Mit seinem Team rechnet er aus, wie sich die Wahlprogramme auf unterschiedliche Einkommensschichten auswirken würden – anhand der Kernforderungen zu Einkommensteuer, Sozialpolitik, Soli und Vermögensteuer. Er sagt: „Anhand des Wahlprogramms zur letzten Bundestagswahl ist die AfD keine ‚Kleineleutepartei‘, sondern eine der Besserverdienenden.“
Die AfD setze auf Entlastung durch Steuerpolitik, was sich vor allem für obere Einkommensschichten lohne. Sie stehe sozialpolitisch zwischen CDU und FDP. Die Berechnungen zeigen: Untere Einkommensschichten bis 40.000 Euro Jahreseinkommen profitieren gar nicht von der AfD. Insbesondere die Abschaffung des Solis und die Einführung eines sozial ungerechten Familiensplittings, wie die AfD es sich vorstellt, würden für ein Haushaltsloch von 50 Milliarden Euro sorgen – zugunsten höherer Einkommensgruppen. Am meisten profitierten diejenigen mit einem Einkommen ab 300.000 Euro. Bei sozial gerechteren Parteien, vor allem der Linken, sieht es genau andersrum aus.
Die Forscher machen aber auch darauf aufmerksam, dass sie in ihrer Untersuchung zwei Forderungen nicht berücksichtigt hätten: die Abschaffung der Rundfunkgebühren und eine Senkung der Mehrwertsteuer auf 15 Prozent.
Die AfD propagiert seit der Energiekrise zumindest vorgeblich auch konkrete Forderungen wie etwa die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, Treibstoff und Energie sowie eine Anpassung des Mindestlohns an die Inflation und Abschaffung von CO2-Abgaben. Stichnoth macht daher geltend, dass sich das Bild der AfD derzeit etwas mische.
Treue zum neoliberalen Markenkern im EU-Programm
Ob derartige Forderungen nur Worthülsen unter dem Eindruck der Krise bleiben? Dass sie sich auch dauerhaft im Parteiprogramm niederschlagen, wirkt unwahrscheinlich: Das kommende Woche in Magdeburg auf der Tagesordnung stehende EU-Programm bleibt dem alten, neoliberalen Markenkern der AfD jedenfalls treu. Eine europäische Sozialunion lehnt die AfD ebenso ab wie eine Finanztransaktionsteuer oder die 1961 geschlossene Europäische Sozialcharta, die umfassende soziale Rechte garantiert.
Stichnoth sieht insbesondere eine Gefahr, wenn die AfD den sozialen Anstrich des französischen Rassemblement National von Marine Le Pen kopiere oder Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ihre Querfront-Bestrebungen verwirkliche – also sich rechte Politik mit Umverteilung nach unten verbinde, womöglich nur für Deutsche ohne Migrationshintergrund. Er glaubt, dass eine solche Partei derzeit erfolgreich sein könnte, und befürchtet, dass sich Sozialstaatsdebatten künftig auf Herkunft statt Einkommensgruppen zuspitzen.
In der AfD steht dem aber noch die programmatisch wirkmächtige neoliberale Grundausrichtung gegenüber. Die hing nicht nur an Personen wie den ausgetretenen Parteivätern Hans-Olaf Henkel oder Bernd Lucke, sondern ist weiter präsent: Die Otto-Brenner-Stiftung, die für eine sozial- und wirtschaftspolitische Analyse Programme, Bundestagsreden und Abstimmungsverhalten der AfD ausgewertet hat, kam 2021 zu dem Schluss, dass es trotz der erkennbaren Zunahme von „Kleine Leute“-Rhetorik eine überraschend klare Kontinuität von neoliberalen und ordoliberalen Positionen gebe. Ihre 68-seitige Analyse heißt: soziale Rhetorik, neoliberale Praxis.
Vermeintlich „linke“ Forderungen für „kleine Leute“ blieben demnach überwiegend Worthülsen. Die AfD führe soziale Abstiege nicht auf sozioökonomische Verteilungskonflikte zurück, sondern erzähle stattdessen „Modernisierungsverlierern“, dass „Establishment“ und „Ausländer“ schuld seien, und fordere Absicherung nur für „einheimische“ Bevölkerung. Der Solidaritätsanspruch verkomme zur Forderung nach „exklusiver Solidarität“ – wie bei Krahs Sonderschülern.
Der Befund wurde jüngst noch vom Parteienforscher Wolfgang Schroeder mit einer frisch veröffentlichten Darstellung erneuert. Schroeder schreibt: „Angesichts einer Wählerschaft, die aktuell überwiegend in den sozial schwächeren Segmenten der Gesellschaft verankert ist, besteht ein offensichtlicher programmatischer Widerspruch mit der nach wie vor eher neoliberalen Ausrichtung der AfD in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ Auch Parteienforscher Schroeder hält es derzeit für möglich, dass diese Repräsentationslücke auch von links gefüllt werden könnte – etwa mit einem links-keynesianischen Ansatz zugunsten der Unterschichten, wie ihn Wagenknecht anstrebe. Auf der anderen Seite traut Schroeder aber auch der AfD zu, sich als Partei der Metamorphosen für eine solche Entwicklung zu öffnen.
Katastrophen-Szenarien und Abstiegsängste
Am deutlichsten ist der Widerspruch zwischen Sozialrhetorik und neoliberaler Agenda in der AfD wohl bei der Co-Vorsitzenden Alice Weidel. Auch sie beschwört häufig in Reden wirtschaftliche Katastrophen-Szenarien und befeuert Abstiegsängste.
Gleichzeitig vertritt die Ökonomin und ehemalige Analystin für Vermögensverwaltung von Goldman Sachs neoliberale Positionen: Abschaffung der Erbschaftsteuer, Steuerpolitik für Reiche, kapitalgedeckte Rente und Sozialabbau. Wegen illegaler Spenden sitzt ihr zudem ein Bußgeld von 396.000 Euro im Nacken, was nicht gerade für Glaubwürdigkeit sorgt, wenn man sich für „kleine Leute“ einsetzen will.
Sie ist damit keineswegs allein – Skandale haben in der zehnjährigen Geschichte der AfD Tradition. Noch mehr illegale Spenden, dubiose Einladungen in Luxushotels, Maximilian Krah, dessen Chinareise von chinesischen Firmen finanziert wurde, oder die Russlandnähe von AfD-Politikern.
Auch Sozialabbau gehört zum parlamentarischen Mainstream in der AfD. Die Wohnungspolitik besticht durch Deregulierung, der Mindestlohn wird häufig abgelehnt, und die Bundestagsfraktion stellte vorigen Herbst sogar die Forderung auf, Langzeitarbeitslose zu Zwangsarbeit zu verpflichten – ohne Bezahlung.
Eine ganz anderes Level von Zynismus erreichte Bundesvorstand und BWL-Professor Harald Weyel. Der sprach bei versehentlich noch laufendem Mikro aus, was viele in der Partei sich nicht öffentlich zu sagen trauen: Man müsse hoffen, dass die Energiekrise besonders schlimm wird, damit die AfD von den Ängsten und Nöten profitieren könne.
Diese Hoffnung hat sich zumindest teilweise erfüllt. Verunsicherung und wirtschaftliche Nöte werden nicht dadurch kleiner, dass die Ampel mitten in einer Wirtschaftskrise auf die Schuldenbremse drückt, bei Sozialausgaben kürzt oder die Energiewende ohne soziale Absicherung zum Kommunikationsdesaster gerät. Russlands Krieg schafft so ideale Bedingungen für Zuspitzungen à la Wagenknecht und AfD. Denn natürlich begünstigt Sparpolitik populistische Verkürzungen und bröckelnde Solidarität – etwa, wenn die AfD gegen Ukrainer*innen hetzt, die Grundsicherung bekommen, oder behauptet, für Waffen in die Ukraine seien 700 Millionen Euro da, aber für arme Kinder nichts.
Der Ökonom und entschiedene Gegner von Sparpolitik, Maurice Höfgen, jedenfalls sagt: „In eine Krise hineinzusparen ist ein Konjunkturprogramm für die AfD und den Höcke-Flügel. Die Inflation hat alle ärmer gemacht, und nationalistische Sozialpopulisten wie Björn Höcke schnellen im Osten von Umfragehoch zu Umfragehoch.“ Abstiegsängste führten dazu, dass man nach unten trete, die AfD setze darauf, die Ärmsten gegen die Schwächsten auszuspielen. Natürlich wählten auch stramm Rechte und Nazis die AfD, aber Umfragen wie das ZDF-Politbarometer zeigten auch, dass viele derzeit zur AfD neigten, ohne überzeugt zu sein.
Was helfe? Neben einer guten Sozialpolitik müssten die Kommunen befähigt werden, dass der Konflikt „Schwach gegen Arm“, Armutsrentner gegen Flüchtlinge, nicht eskaliere an Fragen, ob der Enkel noch die Turnhalle für Sport benutzen könne oder dort Flüchtlinge untergebracht würden. „Die Kommunen wollten kürzlich deutlich mehr Geld haben für die Aufnahme von Flüchtlingen, der Bund hat aber kaum etwas gegeben – das ist genau das falsche Signal“, sagt Höfgen.
Ethnisierung der sozialen Frage
Axel Salheiser vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist Experte für Rechtsextremismus und Konflikte des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Er sieht die Gründe für den Höhenflug der AfD etwas differenzierter: „Soziale Schieflagen spielen sicherlich eine Rolle, aber die Wählerschaft der AfD fühlt sich auch durch neoliberale Kernbegriffe wie Leistungsgerechtigkeit und den Fokus auf soziale Marktwirtschaft angesprochen“, sagt Salheiser – insbesondere aber auch durch konkrete Forderungen nach Steuerentlastungen für Geringverdiener. Ebenso stoße die konsequente Ethnisierung der sozialen Frage auf Widerhall.
„Die entscheidensten Mobilisierungsfaktoren für die AfD bleiben Migrations- und Asylfragen sowie Identitätspolitik von rechts“, so der Soziologe. Es seien eben nicht die Ärmsten, die AfD wählten, sondern diejenigen, denen Statusverlust drohe – die untere bis obere Mittelschicht. Persönliche Benachteiligung sei weniger entscheidend als durchlittene Abstiegsprozesse und kollektive Deklassierungen – „etwa, wenn man Ostdeutsche herabsetzt“, sagt Salheiser. Mit dem Slogan „Vollende die Wende“ spreche die AfD genau dieses Grundgefühl an, das aber mit sozioökonomischen Faktoren und Statusverlustängsten verknüpft sei.
In Krisenzeiten könne die AfD mit der Schärfung des sozialen Profils weitere Mobilisierungspotenziale erschließen, so Salheiser – gerade wenn sie soziale Ungleichheiten und Gerechtigkeitsdefizite bei der Mittelschicht stärker adressiert. Zugleich sei der sozialpolitische Kurs der Partei noch nicht vollends ausdekliniert: Es gebe die neoliberalen Strömungen ebenso wie diejenigen, die den „sozialen Patriotismus“ von Höcke stark machen wollten.
Derzeit fahre die AfD eine Catch-all-Strategie aus einem ressentimentgeleiteten Kurs, ausgerichtet auf die westdeutsche Mittelschicht, und einem stärkeren sozialrhetorischen Profil im Osten.
Bausteine aus linker Theorie klauen
Für Aufsehen sorgte kürzlich, dass der Bundestagsabgeordnete Jürgen Pohl, stellvertretender Vorsitzender aus dem Arbeitskreis Arbeit und Soziales und getreuer Höcke-Mann, den rechten Ideologen Benedikt Kaiser als Mitarbeiter einstellte. Kaiser ist dafür bekannt, Ideologiebausteine bei linken Theoretikern zu wildern und sie mit völkischem Gedankengut zu verbinden – also die soziale Frage von rechts zu spielen.
Kaiser kommt aus dem Schnellroda-Umfeld und war ebenso wie Krah vorige Woche beim Sommerfest. Darüber hinaus hat er eine handfeste Neonazi-Vergangenheit im Umfeld von Kameradschaften wie den 2014 verbotenen „Nationalen Sozialisten Chemnitz“.
Pohl sagte der wochentaz: „Kaiser ist ein unwahrscheinlich befruchtender Mensch.“ Niemand habe ihm gegenüber seine Einstellung von Kaiser kritisiert. Die hohen Umfragewerte in Thüringen führt Pohl auch auf dessen Konzepte des „solidarischen Patriotismus“ zurück. Er rechne damit, dass sich dieser Kurs in der AfD durchsetze.
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