Brandbrief des UN-Generalsekretärs: Die Weltmächte sind jetzt gefragt
In einem einmaligen Vorgang appelliert António Guterres an den UN-Sicherheitsrat. Der sollte darauf hören und Verantwortung in Gaza übernehmen.
D ass der UN-Generalsekretär eine Angelegenheit auf die Tagesordnung des UN-Sicherheitsrats setzt, weil sie „existierende Bedrohungen der Wahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit verschärfen könnte“, sollte eigentlich ganz normal sein. Wozu sonst gibt es die Vereinten Nationen als Organisation mit einer eigenen Stimme und nicht nur als Summe ihrer Mitglieder?
„Fürchterliches menschliches Leid, physische Zerstörung und kollektives Trauma in ganz Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet“ stellt António Guterres fest und prognostiziert eine Apokalypse: „Nirgendwo in Gaza ist es sicher. Inmitten von Dauerbombardierung durch die israelischen Streitkräfte, und ohne Obdach oder das Nötigste zum Überleben, erwarte ich, dass die öffentliche Ordnung bald komplett zusammenbricht.“ Es drohe eine „Katastrophe“ für die gesamte Region, „ein solches Ergebnis muss um jeden Preis vermieden werden.“ Dieser Diagnose ist nicht seriös zu widersprechen.
Gazas Versorgungsnetzwerke werden zerstört, öffentliche Gebäude in die Luft gesprengt, Agrarland wird methodisch vernichtet, die angedrohte Flutung von Gazas Untergrund mit Meerwasser droht den Gazastreifen in eine unbewohnbare Salzwüste zu verwandeln. Netanjahus Krieg trifft nicht nur die Hamas, sondern die gesamte Bevölkerung; er zerstört jede Aussicht auf ein sicheres Umfeld für Israel; er brutalisiert darüber hinaus die eigene Gesellschaft durch die Heroisierung der Vernichtung.
Auch wenn die massiven Angriffe nachlassen, werden noch sehr viele Menschen in Gaza an Hunger und Wassermangel sterben, an unbehandelten Krankheiten, Verletzungen und Entkräftung. Ihr Tod wird möglichst verschleiert: In keinem Krieg der Welt sind in so kurzer Zeit so viele Journalisten und so viele UN-Mitarbeiter getötet worden wie in Gaza. Schon für sie musste Guterres die Stimme erheben.
„Um jeden Preis“ – diese Wortwahl in Guterres’ Brief lässt aufhorchen. Von „Schutzverantwortung“, die ein Eingreifen in Gaza zum Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung nahelegen würde, spricht Guterres zwar nicht, er bekräftigt bloß den Appell zu einem humanitären Waffenstillstand. Aber jetzt muss sich gemäß UN-Charta der UN-Sicherheitsrat damit befassen.
Die Großmächte können Verantwortung in Gaza übernehmen und damit ihrer selbstgesetzten Aufgabe aus dem Jahr 1945, den Weltfrieden zu bewahren, nachkommen. Oder sie scheitern und lassen das Massensterben zu, wie bereits in der Ukraine. Israel führt Krieg um jeden Preis, Guterres fordert Frieden um jeden Preis. Es ist nicht zu spät, den richtigen Weg zu finden. Selten stand so viel auf dem Spiel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
G20-Gipfel in Brasilien
Milei will mit Kapitalismus aus der Armut
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Virale „Dubai-Schokolade“
Dabei sein ist alles