Die Zukunft der Grünen: Müssen die Grünen radikaler werden?

Nach der verlorenen Europawahl sind die Grünen in einer Zwickmühle: Sie machen zu viel und sie machen zu wenig. Dabei gäbe es eine andere Lösung.

Eine vertrocknete Sonnenblume.

Entscheidend sind jetzt die Dinge, für die man nicht gegründet wurde Foto: Ralph Peters/imago

Die auf den ersten Blick seltsame Obsession der deutschen Mediengesellschaft mit den Grünen ist ein gutes Zeichen. Tendenziell. Gerade durch den heftigen Widerspruch zeigt sich, dass es durchaus ein Bewusstsein dafür gibt, dass entscheidende Zukunftsfragen im Kern sozialökologische sind. Zweitens weiß man zumindest unterbewusst, dass Union und SPD keine Spannungspole für Zukunftspolitik mehr sind.

Auf dieser Grundlage wird im Moment gestritten und versucht, meine These gegendarzustellen, die derzeitige Lieblingsbeschäftigung von Linkssozialdemokraten, Classic-Konservativen, Asozial-Liberalen, antiliberalen Staatsfeinden sowie Hinz und Kunz.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Nach der Europawahl und 2,8 Prozent Verlusten gegenüber der bereits krachend verlorenen Bundestagswahl (14,7) haben wir die erwartbare Stehsatz-Analyse: Die Grünen müssen bereuen und umkehren! Entweder sie haben zu viel oder zu wenig gemacht.

Die meisten Strategen wollen die Grünen schlicht wieder an den Rand zurücktreiben, wo sie entweder kein Unheil mehr anrichten können (konservative Sicht) oder wieder „radikaler“ werden sollen (linke Sicht), also sich auf moralisches Sprechen reduzieren oder einfach mal mehr durchsetzen. Mehrheiten in Regierung und Parlament interessieren dieses Denken nicht, es geht um Haltung. Die linke Sicht ist häufig auch nur eine verbrämte Machtstrategie, denn sie möchte, dass die Sozialökologie gefälligst wieder zum linken Add-on geschrumpft wird.

Als Beiprodukt des Krisennarrativs (alles schlimm) greift die romantische Nostalgie um sich, sodass auch Union und SPD gern gewünscht wird, sie sollten wieder wie früher werden, dann würde alles wieder gut. Pfeifendeckel. Die beiden Fossilparteien haben es nach 2005 zusammen versäumt, die drängende Reformpolitik zu finden, zu erklären und Mehrheiten dafür zu gewinnen. Das ist der Grund, warum Entscheidendes eben nicht gut ist.

Man wird priorisieren müssen, sehr unangenehm

Was werden die Grünen jetzt tun? Am besten (für die Konkurrenz) die bewährten Klassiker aufführen, also interne altlagerorientierte Machtkämpfe unter Absingen der traditionellen Psalmen. Für die realistischen Zukunftsinteressierten in und außerhalb der Partei geht es darum, eben nicht in die Habeck-Baerbock-Duell- und Radikaler-werden-Fallen zu tappen, nach denen wir simpel gestrickte Medien gieren, sondern das Vertrauen in eine gesamtgesellschaftlich orientierte Kraft des gemäßigt Progressiven auf der Höhe der Zeit neu und besser zu begründen.

Das geht nicht mit altgrüner Lager- und Politik-Folklore und auch nicht mit Weiter-so-Regieren. Nun muss – um das zur Feier von Jürgen Habermas’ 95. Geburtstag habermasianisch zu denken – der Grüne Idealismus, der die Bundesrepublik zivilisieren half, mit den realen Gnadenlosigkeiten des 21. Jahrhunderts viel intensiver ins deliberative Gespräch kommen.

Angesichts einer fehlenden politischen Priorisierung pflegt die bundesdeutsche Gesellschaft weiter ihre unterschiedlichen Illusionen: Die Erderhitzung wird schon nicht, Putin wird schon nicht, autoritär-national wird super. Die Realitätsverweigerung ist leider die Grundlage eines inklusiven Zukunftsgesprächs. Um da eine Chance zu haben, muss man erst mal eigene Illusionen abräumen.

Und dann wird man priorisieren müssen, sehr unangenehm. Was haben wir falsch gesehen, wo haben wir die Kollateralschäden unserer Politik unterschätzt? Im besten Fall wird man am Ende Allianzen gewinnen, um die zentralen Dinge tun zu können, für eine starke Wirtschaft ohne Emissionen, für die Verteidigungsfähigkeit des liberaldemokratischen Europas nach innen und nach außen.

Entscheidend sind jetzt die Dinge, für die man nicht gegründet wurde.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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