Aktivistin zu Bürgergeld-Sanktionen: „Ein Gerücht, dass Leute rumsitzen“

Die wenigsten Leute verweigern Arbeit aus Faulheit, sagt Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei. Die Gründe, einen Job abzulehnen, lägen woanders.

«Agentur für Arbeit» steht auf einem Wegweiser vor der Behörde in Sangerhausen.

Wer zu Terminen nicht erscheint, ist meistens in einer multiplen Krisensituation Foto: Hendrik Schmidt/dpa

taz: Frau Steinhaus, jeder, der arbeiten könne, müsse das auch tun – das fordert CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Gibt es wirklich so viele Bürgergeldempfänger:innen, die Arbeitsangebote verweigern?

36, gründete 2015 den Verein Sanktionsfrei. Der unterstützt Emp­fän­ge­r:in­nen von Hartz IV oder Bürgergeld.

Helena Steinhaus: Bei den Totalverweigerern handelt es sich um eine verschwindend geringe Zahl. Für letztes Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit rund 8.000 Personen angegeben. Das ist wirklich wenig, wenn man bedenkt, dass 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld-Leistungen beziehen, und darunter sind ein Großteil Kinder und Jugendliche oder Menschen, die bereits arbeiten, aber zu wenig verdienen, sodass sie ergänzend Leistungen beziehen müssen. Ganz viele sind alleinerziehend oder machen andere Care-Arbeit, sodass sie dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen. Und dann sagt die CDU: Zweieinhalb Millionen erwerbsfähige Menschen würden einfach nicht arbeiten gehen. Aber das stimmt nicht.

Oft ist die Rede von „zumutbaren“ Arbeitsangeboten, die Betroffene ablehnen. Was sind das für Angebote?

Zum Beispiel wurde einer spielsüchtigen Person ein Job im Spielcasino angeboten. Der Betroffene war in Behandlung und hatte die Spielsucht überwunden, aber bei Süchtigen braucht es ja nur einen Trigger. Natürlich konnte er das nicht annehmen. Dann sind zum Beispiel die Betreuungszeiten der Kinder nicht vereinbar mit den Arbeitszeiten. Oder die Leute wohnen zu weit weg von der Arbeitsstelle und die Verkehrsanbindung ist super schlecht. Ganz oft passen die Arbeiten einfach nicht zu den Umständen der Leute.

Ihr Verein Sanktionsfrei“ geht deshalb gegen Sanktionen vor. Wie genau?

Zuerst wird ein rechtssicherer Widerspruch erstellt. Gleichzeitig können die Betroffenen Kontakt zu unseren An­wäl­t:in­nen aufnehmen und den Widerspruch individualisiert begründen. Die An­wäl­t:in­nen gucken, ob es eine Rechtsgrundlage für den Widerspruch gibt. So oder so zahlen wir den Sanktionsausgleich, also das Geld, das den Leuten abgezogen wurde. Das erstatten wir aus unserem Solidartopf, weil wir der Überzeugung sind, dass die Menschen bereits von einem Existenzminimum leben. Das darf nicht noch gekürzt werden.

Warum kommen Menschen nicht zu Terminen beim Jobcenter? Aus Faulheit oder aus einer Verweigerungshaltung heraus, wie das die CDU suggeriert?

Ganz viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, sind schlicht krank, haben zum Beispiel Depressionen. Viele können ihre Post nicht öffnen. Sie brauchen Unterstützung und fühlen sich nicht in der Lage, sich ihrem Alltag zu stellen. Oft weiß man auch gar nicht, was von einem verlangt wird, wenn man ins Jobcenter eingeladen wird. Man versteht nicht, warum man schon wieder dahin soll. Oder die Menschen sind in einer multiplen Krisensituation. Es ist ein Gerücht, dass die Leute rumsitzen, Bürgergeld beziehen und nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit machen sollen.

Welche Folgen hätte es, wenn jemand, der eine „zumutbare“ Arbeit ablehnt, für zwei Monate kein Geld mehr erhält, wie von der Ampel gefordert?

Zumindest die Miete kann nicht gestrichen werden. Aber solche Leute verschulden sich dann privat noch mehr, sind noch stärker sozial isoliert, werden häufiger krank, versuchen, Lebensmittel nur noch bei der Tafel zu holen. Man wählt diesen Weg nicht aus Jux und Tollerei oder weil man so renitent ist.

Sie fordern eine bedingungslose Grundsicherung. Wird dieser Kampf jetzt noch utopischer?

Mit Sicherheit. Es gibt uns seit acht Jahren, und es gab zwischendurch hellere Zeiten, wo wir uns auf einem vergleichsweise guten Weg befunden haben. Die Fortschritte der letzten Jahre sehe ich stark bedroht.

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