Wie der Volksentscheid scheitern konnte: Kein Nein gegen mehr Klimaschutz
Unser Kolumnist hat beim Volksentscheid zur Klimaneutralität in Berlin ab 2030 mit Nein gestimmt. Er hat Sorge vor weiteren sozialen Verwerfungen.
S eit dem Scheitern des Klimavolksentscheids floss bereits viel Wasser die Spree entlang. Einige wichtige Aspekte kommen mir jedoch weiterhin zu kurz.
Zwar macht mich seit Jahren schon die vorsätzlich zelebrierte klimapolitische Schnarchnasigkeit vieler in der Politik und Gesellschaft extrem wütend. Trotzdem habe ich am 26. März mit Nein gestimmt. Es kommt noch dicker: Im Herbst unterschrieb ich sogar für die Umsetzung des Volksentscheids. Weil ich die Diskussion darüber für dringlich hielt und tatsächlich mit „Ja“ stimmen wollte.
Unser auf Wachstum basierendes Wirtschaftssystem ist der vorrangige Treiber des menschengemachten Klimawandels. Kapitalismus killt das Klima – und Menschen, die den Wachstumsschmerz ertragen müssen. Wer das leugnet, hat die eigenen geistigen Kipppunkte bereits hinter sich. Jedoch fehlt uns die Zeit, um zuerst einmal den Kapitalismus mehr einzuhegen oder gar abzuschaffen. Die Rettung des Klimas müssen wir also inmitten des Kapitalismus angehen. Voll doof, aber isso!
Mit Folgen für mein Abstimmungsverhalten: Die Sorge vor weiteren sozialen Verwerfungen in einer bereits krisengeplagten Gegenwart war der Grund meines Neins – und ich wette auch der vieler anderer Nein-Stimmen. Die Klimakrise wird bestehende soziale Ungerechtigkeiten dramatisch verschärfen, das ist mir natürlich klar. Wer heute nicht radikal handelt, wird die kommenden Kosten in neue Dimensionen katapultieren. Blöd nur, dass vor der Zukunft die Gegenwart kommt.
Schlussfolgerung greift zu kurz
Die Schlussfolgerung der Initiator:innen und von Teilen der Medien, die Mehrheit der Wahlberechtigten, also auch jene, die zuhause blieben, hätte keinen schärferen Klimaschutz gewollt, greift deshalb zu kurz. Ich meine, die Mehrheit fand zuallererst den gesetzlichen Rahmen in Verbindung mit der Deadline 2030 problematisch. Und fürchtete die damit gezwungenermaßen einhergehenden sozialpolitischen Einschnitte. Allemal mit einem Senat unter mutmaßlicher Führung der reaktionären Berliner Wegner-CDU.
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Apropos Rassismus: Als Migrant schaue ich sensibler (weil schneller betroffen) auf den Stimmenanteil radikal rechter Kräfte bei Wahlen. Die Geschichte zeigt, dass ihr Erfolg wächst, sobald soziale Krisen auf ihre ganz eigenen Kipppunkte zusteuern. Ich wünsche mir, dass uns neben dem Klima auch nicht die Gesellschaft um die Ohren fliegt!
Die sozialen und finanziellen Probleme Hunderttausender Berliner Haushalte im krisengeplagten Hier und Heute wiegen ungleich schwerer, als ein durch drastische Klimamaßnahmen erst morgen wirksamer sozialpolitischer Paradigmenwechsel.
In keinem einzigen Berliner Bezirk, nicht mal in Friedrichshain-Kreuzberg (40,4 Prozent), nahm eine Mehrheit der Wahlberechtigten am Volksentscheid teil. Glaubt irgendjemand allen Ernstes, das wären alles egoistische Öko-Raudys, die nachts davon träumen, wie Christian Lindner seinen Verbrenner streichelt? Ich bin mir sicher, in Berlin gibt es große Mehrheiten für radikaleren Klimaschutz. Es braucht allerdings mehr als die eigene und benachbarte Bubbles. Die Zahlen sprechen dafür.
Für den Entscheid stimmten gut 440.000 Menschen. Das Quorum lag bei etwas über 607.000 Stimmen. Rot-Rot-Grün holte 2021 knapp eine Million Stimmen, bei der Wiederholungswahl waren es immerhin noch über 740.000. Mit den Stimmen „sonstiger“ Parteien, denen ich klimapolitischen Weitblick unterstelle, wären es über 820.000 Stimmen. Vom Potenzial unter den Nichtwählern* ganz zu schweigen. Für die bräuchte es am Brandenburger Tor neben Element of Crime und Igor Levit dann aber vielleicht auch mal Nina Chuba und Apache. Meinetwegen auch Roland Kaiser.
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