Arbeiten aus Urlaubsländern: Neoliberale Hippies

Digitale No­ma­d:in­nen verstehen sich oft als Globalisierungsavantgarde. Dabei verkörpern sie das Gegenteil einer Alternativbewegung.

Zwei Menschen am Strand halten ihr Surfbrett unterm Arm

Vormittags den Laptop unterm Arm, nachmittags das Surfbrett Foto: Manu Reyes/Westend61/imago

Eigenheim, Auto und Nine-to-Five waren gestern, heute heißt es: Lebe nach deinen eigenen Regeln. Finde dein Herzensthema. Arbeite flexibel und ortsunabhängig von überall auf der Welt. Diesem millennial’schen Imperativ von Ungebundenheit, Sinnsuche und Abenteuer wollen auch in Deutschland immer mehr Menschen folgen. Nach einer Bitkom-Umfrage würden 35 Prozent der befragten Erwerbstätigen überwiegend aus dem Ausland arbeiten, wenn sie die Wahl dazu hätten. Die Speerspitze des Trends bilden die sogenannten digitalen Nomad:innen. Als sol­che:r versteht sich, wer nicht nur überwiegend aus dem Ausland arbeitet, sondern gänzlich ohne festen Wohnsitz durch die Warmwetterzonen jettet und zum Geldverdienen nicht mehr als Laptop und stabiles WLAN benötigt.

Ein auffälliger und online sehr präsenter Teil dieser Community inszeniert seinen Lebensstil dabei als hippiesken Gegenentwurf zu einer langweiligen, entfremdeten Angestellten-Vita. „Ich möchte endlich meine eigenen Träume verwirklichen, anstatt meine Lebenszeit für die Träume eines anderen abzusitzen“, lautet ein gern geteilter Aphorismus aus den Facebook-Gruppen der Szene. Doch das Phänomen zeigt auch die Leerstellen und Paradoxien spätkapitalistischer Gesellschaften: Frei und ungebunden sein bedeutet vor allem, sich aus staatlichen und arbeitnehmerischen Strukturen herauszulösen und sich radikal dem Markt zuzuwenden.

Wie die New-Work-Autorin Christine Thiel in ihrer 2021 publizierten Dissertation „Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und Selbstverwirklichung“ nachzeichnet, folgte der Nomad:innen-Trend auf einen internationalen Bestseller: „Die 4-Stunden-Woche: Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben“ aus dem Jahr 2007 von Timothy Ferriss. Darin wurde Reichtum nicht mehr durch Besitztümer, sondern über frei verfügbare Zeit und Mobilität definiert. Postmaterielle Werte wie Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, die zuvor die Boheme für sich beansprucht hatte, konnten so als „neuer Reichtum“ gelabelt, kapitalistisch imprägniert und in die Welt der High Perfomer und Karrieremenschen transferiert werden.

Doch so ein Lebenskonzept muss finanziert werden. Ferris empfahl dafür zum einen den Aufbau von passivem Einkommen. Dies beschreibt eine einmalige Arbeitsleistung, die daraufhin ohne weiteres Zutun Einnahmen generiert. Beispielsweise ein Web-Seminar, das, einmal online, immer wieder abgerufen und verkauft werden kann. Zum anderen verbreitete Ferris das Prinzip der sogenannten Geoarbitrage. Damit wird die Ausnutzung weltweit unterschiedlicher Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten bezeichnet. Konkret: Selbst mit einem eher geringen Gehalt aus Deutschland lässt es sich in Ländern des Globalen Südens gut leben. Diese beiden Strategien kennzeichnen auch die Lebensweise vieler Digitalnomad:innen.

Vom Markt getrieben

Doch die vermeintlichen Erfolgsmodelle führen nur für wenige zum propagierten Luxus-Life. Das zeigt die Feldstudie von Christine Thiel, die sich zwischen 2015 und 2019 immer wieder mehrere Monate an den weltweiten Webworker-Hotspots aufhielt und qualitative Interviews mit No­ma­d:in­nen führte. Viele digitale No­ma­d:in­nen leben trotz Geoarbitrage als prekäre Freelancer:innen.

Sie arbeiten im Amazon-Direkthandel, geben Lebens- und Business-Coachings, betreiben als virtuelle Assistenzen eine Art Onlinesekretariat oder verfassen suchmaschinenoptimierte Werbetexte. Wenige No­ma­d:in­nen bleiben über längere Zeit bei einer Tätigkeit, vielmehr sind sie getrieben von den schnelllebigen Moden des digitalen Marktes. Gerade noch geben und nehmen sie Kurse darüber, wie man durch cleveres Meilensammeln Business-Class-Flüge abgreift, dann mieten sie günstige Immobilien in Ländern des Globalen Südens, um sie teuer an Tou­ris­t:in­nen unterzuvermieten.

Die meisten digitalen Dienstleistungen folgen aktuellen Trends, werden massenhaft kopiert, bis schließlich ein neuer Hype durch die Szene rollt. Die Produkte richten sich darüber hinaus häufig an das Milieu selbst und sind auf die Rekrutierung neuer „like-minded-people“ aus. Ihre in E-Books, Podcasts, Blogs und Onlinekurse gegossenen Programme heißen „I choose Freedom“, „Officeflucht“ oder „Breakout! Raus aus dem System, rein in dein (steuer-)freies Leben“. In vielen Momenten wirkt die Szene wie ein großes Schneeballsystem, in dem sich die Mitglieder ihre Coachings gegenseitig andrehen. Immer wieder im Gegenschnitt: das Bild des fremdbestimmten Nine-to-Five-Angestellten als typischen „Hamsterrad-Menschen“. Einzig die No­ma­d:in­nen scheinen ultimative Freiheit erlangen zu können.

Thiels detaillierte Studie macht nicht nur die offensichtlichen Unstimmigkeiten einer angepriesenen Selbstverwirklichung, die sich durch den Kauf von holzschnittartigen Online-Einleitungen einstellen soll, sichtbar. Sie beleuchtet auch weitere Widersprüche zwischen dem vermarkteten Lifestyle und der Lebensrealität der digitalen Nomad:innen. Das vielleicht größte Paradox offenbart sich bei der Betrachtung ihrer Befreiungsdiskurse. In den Facebook-Gruppen der Szene blitzt immer wieder eine Weltsicht auf, die staatliche Sicherheitsnetze und Regulierung ablehnt.

Deutschland mit seinen Coronamaßnahmen und Steuer- und Schulpflicht wird in den Kommentaren nicht selten als bürokratische, planwirtschaftliche „Bananenrepublik“ betitelt. Diese Einstellungen stehen zwar nicht stellvertretend für die gesamte Community, doch ihre Häufung wirkt bei Ansicht der Befreiungsideologie nicht zufällig. Die Glorifizierung von Selbstverantwortung, individueller Freiheit und Risikobereitschaft ist in dieser Ideologie von Grund auf angelegt. Dabei sind es ironischerweise gerade die verteufelten Sicherheitsnetze, die den Schritt ins Nomad:innen-Leben für viele ermöglichen.

Mit ihrem Selbst-verwirklichungs-kitsch verschleiern die Di­gi­tal­no­ma­d:in­nen die Kosten des globalisierten Kapitalismus

Kosten des globalisierten Kapitalismus

Das Wissen um einen „weichen Fall“ bei einem Scheitern macht das Wifi-Vagabundieren überhaupt erst zu einer Option. Unreflektiert bleiben außerdem die Mobilitätszwänge, denen sich die No­ma­d:in­nen freiwillig unterwerfen. Die meisten reisen mit Tourist:innen-Visa und müssen aus vielen Ländern nach spätestens drei Monaten wieder ausreisen. Da sie ohne Arbeitserlaubnis einreisen, bewegen sie sich zudem häufig in rechtlichen Grauzonen.

Mit ihrem Selbstverwirklichungskitsch auf Social Media verschleiern die digitalen No­ma­d:in­nen die Kosten des globalisierten Kapitalismus mit all seinen Zwängen und Unsicherheiten. Viele haben die Vermarktung ihres Lifestyles zum Geschäftsmodell erhoben. Mit der Realität haben die instagrammigen Hochglanzbilder dagegen nicht viel gemein; sie erfüllen sich allenfalls für Wenige. Und auch das kapitalismuskritische Moment durch das Anprangern der Entfremdung im Angestelltenverhältnis entpuppt sich als strategisches Schattenboxen. Ziel ist nicht, den „Feind Kapitalismus“ mit einem gezielten Schlag zu treffen, sondern das New-Work-Freelancer-Modell gegenüber der sozialmarktwirtschaftlichen Festanstellung zu bewerben.

Die digitalen No­ma­d:in­nen hinterfragen die Mechanismen, die zu den Marktverhältnissen führen, nicht kritisch. Stattdessen naturalisieren sie diese und deuten sie gar als Chance um: der Verlust von sozialen und arbeitnehmerischen Sicherheitsnetzen? Ein feierlicher Austritt aus der eigenen Unmündigkeit. Sich als einsame Ich-AG im freien, globalisierten Wettbewerb behaupten müssen? Eine Chance für ultimative Selbstverwirklichung. Das ideologische Fundament beruht auf einem beinahe spirituellen Glauben an die Befreiungs- und Entfaltungskräfte eines unregulierten Marktes. Der Soziologe Ulrich Bröckling hat für diesen spätmodernen Typus in den frühen 2000ern die Bezeichnung „Das unternehmerische Selbst“ geprägt.

Im Stil von Google, Facebook und Co

In diesem Sinne sind die digitalen No­ma­d:in­nen das Gegenteil einer Alternativbewegung: Anstatt die gegenwärtigen Strukturen anzugreifen und wie in den 70er Jahren innerhalb von Kollektiven, Werkstätten oder Genossenschaften Gegenmodelle zu erproben, rufen die neoliberalen Hippies dazu auf, den ökonomischen Mainstream auf die Spitze zu treiben.

Digitale No­ma­d:in­nen operieren wie internationale Unternehmen, wenn sie ihre Lebenshaltungskosten in Länder des Globalen Südens outsourcen. Viele melden ihren Wohnsitz in Deutschland ab und nutzen Steuersparmodelle im Stile von Google, Facebook und Co. Die große Leerstelle, so resümiert auch Christine Thiel in ihrer Analyse, ist die moralische Bewertung dieser gesellschaftlichen Entsolidarisierung. Alles erscheint allein dadurch legitim, dass es möglich ist.

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