Abschiebung einer Familie in Schwerin: Mit dem Rammbock ins Kirchenasyl
In Schwerin hat die Polizei am Mittwoch das Kirchenasyl gebrochen. Beim Abschiebeversuch zweier Afghanen eskalierte die Situation.
Am frühen Morgen war die Polizei in das Haus eingedrungen, in dem eine sechsköpfige, aus Afghanistan stammende Familie seit einer knappen Woche lebte – im Kirchenasyl. Nur sehr selten haben in den vergangenen Jahren Polizist:innen das ungeschriebene Gesetz gebrochen, nach dem Menschen nicht aus Räumen geholt werden, die ihnen von Kirchengemeinden zum Schutz vor Abschiebung zur Verfügung gestellt werden.
Doch die Kieler Ausländerbehörde, die die Schweriner Polizei um Amtshilfe gebeten hatte, wollte die vom Bundesamt für Migration angeordnete Abschiebung der beiden volljährigen Brüder des Kleinen nach Spanien vollziehen. Gescheitert ist sie daran, dass die 47-jährige Mutter, eine afghanische Frauenrechtlerin und TV-Journalistin, drohte, sich, den Zehnjährigen und seine 13-jährige Schwester mit einem Messer zu töten.
Laut Polizei hatten die Mutter, der mit 22 Jahren älteste Sohn und das Mädchen Messer versteckt am Körper getragen. Der 22-Jährige soll sich zudem mit Glasscherben Verletzungen im Gesicht zugefügt haben. Die Mutter befand sich am Mittwochnachmittag nach Angaben der Polizei aufgrund ihres „psychischen Ausnahmezustands“ in einem Krankenhaus. Gegen sie wird wegen Bedrohung und Nötigung ermittelt.
Trügerische Sicherheit in Europa
„Sie haben so einen langen Weg hinter sich und dachten, sie wären endlich in Sicherheit“, sagt Imogen Canavan, eine britische Anwältin, die die Familie unterstützt, seitdem sie vor der Gewalt der Taliban geflohen ist. Am Mittwochmorgen habe die 13-jährige Tochter sie angerufen, auch sie sei außer sich gewesen. „Im Hintergrund waren Schreie zu hören, die Mutter war nicht ansprechbar, die Kinder hatten Angst.“
Die Polizist:innen, die sich um Deeskalation bemühten, schienen ihren Job gut zu machen, erzählt Canavan, sie habe selbst mit ihnen gesprochen und gehört, wie sie mit den Kindern redeten. Allerdings hätten ihr die Kinder auch erzählt, dass die Polizei morgens erst einmal ohne Dolmetscher im Haus gestanden hätte und die beiden Brüder auf Deutsch aufgefordert habe, mitzukommen.
Zum ersten Mal getroffen hat die Anwältin die Familie kurz nach ihrer Flucht in den Iran im Juli 2022. Von dort flogen die Eltern und Kinder im Frühjahr 2023 nach Spanien. Für das Land hatten sie schneller ein Visum bekommen als für Deutschland. „Sie sind nur nach Spanien gegangen, weil sie im Iran nicht mehr sicher waren und die Mutter dringend operiert werden musste“, sagt Canavan. Der Zehnjährige habe zudem eine Herzerkrankung, die behandelt werden musste. Aufgrund der Dublin-Regelung gilt Spanien jetzt als das europäische Einreiseland, in dem die Familie Asyl beantragen muss.
Allerdings hätte sie auch dort weder medizinische noch psychotherapeutische Hilfe bekommen, sagt Canavan – und sie hatte eine Zusage der Bundesregierung im Aufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan:innen. Daher reiste die Familie im Juni nach Deutschland weiter, wo die Mutter sofort operiert und psychotherapeutisch betreut wurde. Zunächst landeten sie in Neumünster, lebten zuletzt in Kiel.
Die nur moralisch, nicht aber rechtlich bindende Zusage der Bundesregierung war der Grund, warum sich Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, im Oktober in den Fall einschaltete. „Wir haben versucht, mit Behörden und Politiker:innen zu reden und ihnen die Situation erklärt“, sagt Jochims. Der älteste Sohn sei kognitiv eingeschränkt, dies habe ein Psychiater bestätigt. Der 18-Jährige regle alle Anliegen der Familie und kommuniziere mit Ärzt:innen und Behörden. Auch ein Härtefalldossier habe man zusammengestellt. Aber das Bundesamt für Migration habe auf der Ausreise der volljährigen Söhne nach Spanien bestanden – obwohl es in einem Bescheid zum Asylverfahren im Juli geheißen hatte, die Familie werde nicht getrennt.
Nachdem am 10. Dezember die Abschiebung der beiden jungen Männer angekündigt worden war, sei eine Gemeinde für ein Kirchenasyl gesucht und gefunden worden, sagt Jochims. „Das anzurühren, war eigentlich immer ein Tabu und ist beschämend.“ Jochims ist nicht die einzige, die der Vorfall am Mittwoch wütend gemacht hat. Die Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein der Nordkirche, Nora Steen, sagte in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit Jochims: „Solch eine bedrohliche und eskalierende Situation wie heute Morgen in Schwerin hat die Familie massiv retraumatisiert und ist unzumutbar.“
Kirchengemeinden sind verunsichert
Der Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern schrieb in einer Stellungnahme, dies sei das erste Mal, dass in dem Bundesland ein Kirchenasyl gebrochen werde. „Das ist ein erschreckendes Signal an Geflüchtete, die in Deutschland Schutz suchen.“ Es richte sich auch an Kirchengemeinden, die nun verunsichert seien, ob sie Geflüchteten weiterhin Zuflucht und Hoffnung bieten können.
Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ schreibt auf ihrer Homepage von 455 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 643 Personen, davon etwa 105 Kinder. Es handle sich überwiegend um Menschen, die nach dem Dublin-Verfahren in andere europäische Länder abgeschoben werden sollen, in die sie zuerst eingereist sind. Im Juli sei ein Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen gewaltsam geräumt worden, um ein kurdisches Ehepaar aus dem Irak nach Polen abzuschieben, heißt es auf der Seite.
Eine Sprecherin von Schleswig-Holsteins Sozialministerium Aminata Touré (Grüne) schrieb der taz auf Anfrage: „Wir haben uns der Sache angenommen und prüfen sie“. Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern wollte sich zu dem Vorgehen der Polizei nicht äußern.
Hinweis: In einer früheren Version stand, das Innenministerium habe geantwortet, es wolle sich der Sache annehmen. Das trifft nicht zu, wir haben die Stelle korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken