Rechtes Paradoxon: Warum AfD und Junge Freiheit plötzlich gegen eine Abschiebung sind
Der Fall von Liliya Klassen zieht bemerkenswerte Kreise: Die Russlanddeutsche mit kasachischem Pass soll sich hierzulande illegal aufhalten.

Liliya Klassen ist eher Russlanddeutsche, hat aber nur einen kasachischen Pass. Weil die Vorfahren der Russlanddeutschen zu Zeiten der deutschen Kleinstaaterei ins Russische Reich auswanderten, hatten sie keine deutsche Staatsangehörigkeit. Ihre Nachfahren müssen ein kompliziertes Aufnahmeverfahren durchlaufen, um den deutschen Pass erhalten und damit nach Deutschland reisen zu können. Eine der Bedingungen: Das muss in den GUS-Staaten geschehen. Doch das hat Liliya Klassen nicht getan. Sie reiste vielmehr nach Angaben des Landratsamtes Heilbronn 2020 mit einem Schengenvisum nach Deutschland, das sie lediglich berechtigte, sich hier 90 Tage aufzuhalten. Ihr Mann und die sieben Kinder hingegen sind Deutsche, weil der Großvater des Mannes bereits 1944 eingebürgert wurde.
„Deutsch und unerwünscht“ titelt die Junge Freiheit. Tatsächlich ist die vom Landratsamt ausgesprochene Ausreiseaufforderung hart. Dort hat man keinen Zweifel daran, dass Frau Klassen als Frau eines deutschen Mannes einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis hat. Jedoch, so ein Sprecher des Amtes gegenüber der taz: Ihr Schengenvisum berechtige nicht zur Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Sie müsse nach Kasachstan ausreisen und dort eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Eine Regel, die zur Eindämmung der Migration nach Deutschland geschaffen wurde. Auch gelte: „Die bewusste Umgehung des Visumsverfahrens darf nicht folgenlos bleiben.“
Amt sieht keinen Härtefall
Das Ausländerrecht würde in Härtefällen allerdings Ausnahmen zulassen. Doch so einen Härtefall sieht das Amt nicht, denn die Kinder der Frau seien überwiegend volljährig und könnten eine zeitweise Trennung von der Mutter verkraften. Der jüngste Sohn ist 14.
Bemerkenswert ist, dass sich Ernst Strohmaier, Vorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Baden-Württemberg und strenger CDU-Mann, nicht zu schade ist, dem AfD-Politiker und Journalisten Vadim Derksen ein Interview zu geben. Dort plädiert er gegen die Ausreisepflicht für die Frau aufgrund des besonderen Familienzusammenhalts unter Russlanddeutschen. Bei der türkischen oder chinesischen Frau eines Deutschen würde seine Argumentation gegen die Trennung nicht greifen. Immerhin distanziert sich die Landsmannschaft auf Bundesebene ausdrücklich von Strohmaier, wie deren Sprecherin Albina Baumann der taz bestätigte.
Bundesaussiedlerbeauftragter Bernd Fabritius sagt der taz, der Fehler der Familie hätte darin bestanden, dass sie sich überwiegend von dem Pfarrer ihrer freikirchlichen Gemeinde hat beraten lassen, statt eine qualifizierte Beratungsstelle aufzusuchen. Jetzt hätte die Frau dank qualifizierter Beratung einen Antrag an die Härtefallkommission gestellt. Kaum vorstellbar, dass der abgelehnt wird.
Autorin Ira Peter, nach der Sängerin Helene Fischer wohl eine der bekanntesten Russlanddeutschen, findet es „zynisch, wie die AfD und neurechte Medien den Fall Klassen ausschlachten. Eine Partei, die sonst Abschiebungen bejubelt, zeigt plötzlich Mitgefühl. Aber nur, weil es um Menschen geht, die deutsch, christlich und konservativ sind und so in deren ideologisches Raster passen.“ Peter plädiert allgemein für eine humanitäre Prüfung. „Ich möchte in einem Land leben, in dem Gesetze für alle gleichermaßen gelten, unabhängig von Herkunft, Religion oder politischer Überzeugung.“
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