: „Land gegen Frieden, das funktioniert nicht“
Die Politikwissenschaftlerin Claudia Major im Gespräch über einen möglichen Frieden in der Ukraine und die Gefahr eines Atomkriegs
Interview Anastasia Zejneli
taz: Frau Major, der dritte Kriegswinter in der Ukraine steht bevor. Wird es der letzte sein?
Claudia Major: Das werden wir erst im Nachhinein wissen. Aber die Ukraine und Russland scheinen sich auf eine US-Entscheidung bezüglich des Krieges vorzubereiten. Trumps Wahl bedeutet eine große Unsicherheit für beide Seiten. Daher versuchen beide Kriegsparteien, sich in die bestmögliche Position zu bringen. Langsam aber stetig erobert Russland ukrainische Gebiete. Und die Ukraine versucht mit allen Mitteln, sie aufzuhalten, weil sie große Sorge hat, dass die Frontlinie zur Waffenstillstandslinie wird.
taz: Die USA haben den Einsatz reichweitenstarker Raketen genehmigt, die Ukraine setzt auch britische Storm Shadows ein. In Deutschland führt die Taurus-Debatte zu keiner Einigung. Könnten neue Waffen ein Gamechanger sein?
Major: Diese ganze Gamechanger-Debatte ist Unsinn. Eines der Grundprobleme in der deutschen Debatte ist, dass wir ganz lange über einzelne Waffensysteme diskutiert, aber weniger gefragt haben, was das Ziel der Waffenlieferungen sein soll. Der Taurus würde der Ukraine helfen, wichtige militärische Ziele wie Kommandozentralen und Logistikknotenpunkte zu zerstören und damit Druck aus dem russischen Angriff rauszunehmen. Doch damit das tatsächlich wirkt, hätte man sie schon viel früher liefern müssen. Wir scheinen zu glauben, dass wir durch die Lieferung ausgewählter Waffensysteme Putins Reaktionen kontrollieren und ein anarchisches System wie Krieg steuern können. Das grenzt an Hochmut.
taz: Wie könnte ein Frieden garantiert werden?
Major: Die ultimative Lebensversicherung für einen Staat sind entweder eigene Atomwaffen oder eine Mitgliedschaft in einer Verteidigungsallianz wie der Nato. Russland hat bislang den Konflikt mit Nato-Staaten vermieden, weil diese glaubhaft vermitteln konnten, dass bei einem Angriff auf einen Nato-Staat, ob Estland oder Rumänien, alle 32 Alliierten – darunter drei Atommächte – gemeinsam zur Verteidigung kommen würden. Das wirkt abschreckend.
taz: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich dazu geäußert, zeitweise Gebiete abzutreten. Zeugt es von seiner Hilflosigkeit?
Claudia Major ist Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU.
Major: Selenskyj hatte im Sommer schon gesagt, dass er das allein nicht entscheiden kann. Wenn, dann muss das die ukrainische Bevölkerung mittragen. Momentan spricht sich die Mehrheit immer noch gegen Landabtretungen aus, weil sie wissen, dass unter russischer Besatzung nicht Frieden herrscht, sondern eine aktive Russifizierung und Entukrainisierung. Zudem hat 2014 gezeigt, dass Land gegen Frieden nicht funktioniert. Die Ukraine musste die Krim und einen Teil des Donbass abgeben. Aber es gab keinen Frieden, sondern den nächsten Krieg ein paar Jahre später. Solange die Konfliktursachen nicht behoben sind, also solange Russland immer noch die Souveränität der Ukraine abschaffen will, und solange Moskau die Mittel hat, seine Ziele militärisch zu erreichen, solange ist die Ukraine bedroht. Dann ist ein Waffenstillstand eine Regenerationspause für die russischen Streitkräfte bis zum nächsten Angriff, wie zwischen 2014 und 2022.
taz: Putin hat am vergangenen Dienstag seine Atomdoktrin minimal ergänzt. Verstehen Sie die Sorge vor einem Weltkrieg?
Major: Ich verstehe die Sorge – jeder Konflikt mit einer Atommacht ist gefährlich. Aber wir müssen auch verstehen, was Russland bezwecken will: Die nuklearen Drohungen sind seit Beginn der erneuten Invasion Teil des russischen Versuchs, uns einzuschüchtern und von der Unterstützung der Ukraine abzuschrecken. In Deutschland scheint das zu funktionieren – mehr als in anderen Ländern. Wir springen bereitwillig über fast jedes nukleare Stöckchen, was Moskau uns hinhält. Putin will Angst schüren. Doch letztlich weiß auch er, dass der Einsatz von Nuklearwaffen, also der Bruch des nuklearen Tabus seit 1945, für Russland katastrophal wäre. Wir können eher davon ausgehen, dass Russland konventionell weitereskaliert, Konflikte an anderen Orten weltweit schürt und die hybriden Angriffe ausweitet, etwa Sabotage von kritischen Infrastrukturen, Desinformation und Cyberangriffe.
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