Demo gegen Coronamaßnahmen: Muss man das aushalten?

Die Proteste vom Wochenende müsse eine Demokratie wegstecken, behaupten manche. Das ist zynisch, wo sich doch Risikogruppen seit Monaten isolieren.

Demonstranten auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude

Aufnahme vor dem Bundestag am Tag der Demonstrationen Foto: Christian Jungeblodt

Der bequemste Satz dieser Tage ist wohl: „Das wird eine Demokratie aushalten müssen.“ Er fiel sehr oft im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen vom vergangenen Wochenende. Das sei zwar alles ärgerlich und störend und bizarr, aber auch legitim. Wer aber sind die Leute, die diesen Satz sagen? Nach meiner Privatempirie sind das in erster Linie Menschen, die selbst nicht allzu viel auszuhalten haben. Für sie bleibt die Gewalt, die von diesen Demonstrant'innen ausgeht, eine abstrakte, theoretische Frage.

Die Demonstrant’innen vom Wochenende sind Teil dessen, was der Historiker und Publizist Volker Weiß „die autoritäre Revolte“ genannt hat. Die sich liberal gebende Gegenrede, dass man diese Revolte eben aushalten müsse, ist in sich allerdings auch autoritär: Sie nimmt die Demonstrant’innen nicht ernst, glaubt ihnen kein Wort, behandelt sie wie verwirrte Kinder oder abstruse Gestalten. Die Verniedlichung und Verkindlichung der Proteste geht mit einer paternalistischen Draufsicht einher, die immer behauptet, die Demokratie als Ganzes im Blick zu haben. Als wäre man als Kommentator’in nicht Teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern ­Bundesverfassungsrichter’in in spe.

Die Demonstrationen haben Bilder geliefert, die je nach Disposition Besorgnis, Faszination oder sogar Amüsement ausgelöst haben. Die Zusammenschnitte von Interviews mit Teilnehmer’innen, mit brüllenden Hools, erleuchteten Christ’innen und singenden Hippies, sind zigtausendfach geteilt worden. Sie waren eben auch Entertaining: sehr viel interessanter und kurzweiliger jedenfalls als die Situation der sogenannten Risikogruppen, die sich schon seit Monaten so weit es geht isolieren. Noch immer halten viele Heime Kontaktbeschränkungen aufrecht, die einem Lockdown sehr nahe kommen.

Es stellen viel zu wenige Leute die Frage, was ein Demonstrationsrecht in Zeiten einer Pandemie bedeutet, wenn die Leute, die aus Eigeninteresse zu einer Gegendemo oder Blockade gehen würden, nicht hinauskönnen, ohne um ihre Gesundheit fürchten zu müssen. Sei es, weil sie Opfer rassistischer, antisemitischer oder LGBTQI-feindlicher Übergriffe werden können. Sei es, weil sie die Ansteckung mit dem Virus fürchten müssen.

Relevant fürs System

Die mahnenden Stimmen, jetzt bloß nicht überzudramatisieren, denn im Grunde sei auch nicht groß etwas passiert, schließen sich sehr gut an den populären Hashtag #covidioten, der so tut, als wären diese Menschen unzurechnungsfähig und nicht ernst zu nehmen. Dabei ist viel naheliegender, dass den Demonstrant’innen einfach alles egal ist außer ihnen selbst. Es ist nicht so kompliziert: Sie stehen für das Recht ein, das Virus verbreiten zu dürfen. Egoman und privilegiert zu sein, ist aber keine psychische Erkrankung. Es ist nur eine Zumutung für alle, die mit ihnen notgedrungen zu tun haben müssen. Am Samstag machen sie einen Ausflug auf einen potenziellen Superspreading-Event, am Montag schicken sie ihre Kinder wieder fröhlich in die Schule.

Währenddessen hat der Impfstoffexperte Dr. Tobias Witte am Wochenende bei Radio eins darauf gepocht, dass, wenn es einen Impfstoff geben werde, zunächst die sogenannten Systemrelevanten davon profitieren sollten und danach dann die Multiplikatoren. Erst dann wären die Risikogruppen an der Reihe. Jene, die auch jetzt schon den größten Preis bezahlen, sollen sich also wieder hinten anstellen.

Von der universalistischen Linken ist bei diesen Verteilungskämpfen wenig Unterstützung zu erwarten, weil sie sich Betroffenenperspektiven verschließt. Ihre Kritik an Identitätspolitik immunisiert sie, deswegen nehmen sie sich auch nicht mehr als Teil von politischen Kämpfen wahr, sondern kommentieren sie bloß noch. Der Satz „Das wird eine Demokratie aushalten müssen“ ist der Sesselfurz im Diskurstheater. Die Frage ist nur: Wie viel passive Draufsicht verträgt so eine Demokratie eigentlich?

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