Pro und Contra zur autofreien Innenstadt: Wie sozial ist das denn?
Das Ringen um den Raum auf der Straße ist auch ein Kulturkampf. Aber: Ist die autofreie Stadt überhaupt sozialverträglich?
Pro
Das ist eine gute Nachricht. Der Kulturkampf gegen das Auto hat begonnen. Geführt wird er von unten: von BürgerInnen, die ihrer Lebensqualität in der Stadt, ihrer Sicherheit und dem Klimaschutz größeren Stellenwert einräumen als dem individuellen Anspruch darauf, mit dem eigenen Auto Lebensqualität und Sicherheit anderer sowie das Klima für alle zu beschädigen. Nicht die Industrie und auch nicht die Politik sind die Antreiber dieser Debatte, sondern jene, die die autofreien Straßen mit Protestaktionen und wissenschaftlich fundierten Analysen einfordern.
Die Forderung nach Innenstädten ohne motorisierten Individualverkehr ist keineswegs nur ein Projekt grünliberaler Eliten, sondern wird von Fahrradfahrern, Eltern und Klimaaktivisten aus allen sozialen Schichten erhoben. Genauso milieuübergreifend sind ihre Gegner, jene, die am privaten Luxus eines Autos festhalten. Der Auto-Fetisch ist vom Einkommensmillionär bis zum kleinen Handwerker verbreitet – doch deren Individualinteresse schadet der Allgemeinheit. Die Verbannung der Autos etwa aus dem S-Bahn-Ring träfe alle gleichermaßen. Unsozial ist das nicht.
Autos sind auch kein Fortbewegungsmittel derer, die morgens um 4 Uhr unsere Schulen putzen. Etwa 300 Euro sind monatlich notwendig, um ein Auto zu unterhalten. Wer prekär lebt, muss darauf seit jeher verzichten. In Berlin sind das viele: mehr als die Hälfte der Haushalte hat – auch aus anderen als finanziellen Gründen – überhaupt kein eigenes Auto. Warum auch? Schon jetzt hat Berlin einen öffentlichen Nahverkehr, der einen nahezu überall schneller hinbefördert als das eigene Auto auf den überfüllten Straßen.
Mehr öffentliche Infrastruktur
Hinzu kommt: der Weg zu einer autofreien Innenstadt geht nur über eine weitere massive Verbesserung des Angebots von BVG und S-Bahn. Wer morgens um 4 zu seinem Arbeitsplatz muss, braucht ein entsprechendes Angebot ohne lange Wartezeiten. Für Pendler müssen Park-and-Ride-Angebote ausgebaut werden.
Und für Wege, die nicht anders zurückgelegt werden können, braucht es Car-Sharing-Angebote, die finanzierbar sind und deshalb nicht privaten Firmen überlassen bleiben dürfen. Mit all diesen Begleitmaßnahmen gibt es keinen Grund mehr, warum 3,5 Millionen tägliche Kfz-Fahrten, von denen nur ein minimaler Teil auf Pendler entfallen, und insgesamt 1,2 Millionen Autos, die 95 Prozent der Zeit ungenutzt herumstehen, die Stadt verstopfen.
Eine lebenswerte Stadt bietet Platz für Flaneure, Straßencafés, für Radfahrer und Kinder. Sie ist außerdem die Voraussetzung dafür, dass Berlin seinen Teil zur Lösung der globalen Klimakrise leistet. Die Zeit dafür ist gekommen. Jetzt braucht es Mut – und keine Ausflüchte. Erik Peter
Contra
Eins vorneweg. Mit Testosteron vollgepumpte Männer, mit oder ohne Tattoo, die die Straßen der Stadt als Kampfplatz missbrauchen, sind mir zuwider. Nur frage ich mich, wie es wäre, wenn die Straßen der Innenstadt nur noch von Besserverdienenden genutzt werden, die unter dem Pflaster nicht den Strand entdecken, sondern ihre teuren Kinderwägen statt der SUV spazieren fahren.
An manchen Orten in Prenzlauer Berg ist bereits abzusehen, welche Bilder eine Eroberung der Innenstadt durch die Gewinner der Gentrifizierung hervorbringt. Und die Gewinner der Gentrifizierung werden auch die Gewinner einer autofreien Innenstadt sein, wenn diese nicht sozialpolitisch abgefedert wird. Man könnte auch sagen: Was die Mietenexplosion trotz aller Verwerfungen noch immer nicht geschafft hat, könnte ausgerechnet die autofreie Stadt bewirken: die massive Verdrängung von Geringverdienern aus den Innenstadtbezirken.
In diesen Tagen dreht sich alles ums Klima. Aus dem einsamen Protest von Greta Thunberg in Stockholm ist eine globale Bewegung geworden. Sie ruft zum weltweiten Streik auf. Am 20. September protestiert „Fridays For Future“ in 400 deutschen Städten, weltweit soll es 2.000 Aktionen in 120 Ländern geben. Gleichzeitig stellt die Bundesregierung die Weichen für eine strengere Klimapolitik.
Die taz ist Teil der Kampagne „Covering Climate Now“. Mehr als 200 Medien weltweit setzen bis zum UN-Klimagipfel vom 21. bis 23. September in New York gemeinsam genau ein Thema: Klima, Klima, Klima.
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Denn wer prekär lebt, ist oft auf das Auto angewiesen. Ein Job hier, einer dort, dazwischen kurz das Kind versorgen? Geht nur mit dem Auto. Schichtarbeit als Krankenschwester in einer Klinik am Stadtrand? Auto. Ein Intensivpfleger mit eng getaktetem Zeitplan für die Patienten? Auto. Arbeit in der Gastronomie bis morgens um drei. Auto. Mögen sich die Besserverdienenden mit guter Arbeit die autofreie Stadt leisten können, sind viele, die in der Innenstadt wohnen bleiben wollen und am Monatsende kaum mehr was auf dem Konto haben, auf das Auto angewiesen.
Stadt: Ein Nebeneinander von Fremden
Und dann gibt es noch die, die ohne ihr Statussymbol zu Zwergen schrumpfen würden. Man muss sie, wie gesagt, nicht mögen. Aber Stadt ist immer auch das Nebeneinander von Fremden, die sich nicht lieben, wohl aber nebeneinander leben lernen müssen. Ein Abbild dieser sozialen und kulturellen Mischung ist auch der Straßenverkehr mit dem Nebeneinander von Autos, Fahrrädern und E-Scootern.
Eine Stadt, in der nur noch Gleiche unter ihresgleichen leben würden, wäre nichts anderes als ein überdimensioniertes Dorf. Ein solches Dorf aber könnte aus der Innenstadt werden, wenn, nennen wir sie Maik und Mesut, künftig nicht mehr auf der Sonnenallee ihre BMW flott machen dürften.
Ja, auch an ihnen darf der Klimawandel nicht vorbeigehen, auch sie müssen den Schuss hören. Aber besser, sie hören ihn in der Innenstadt als am Stadtrand. Manche Grünenwähler, die diese Nachbarn schon immer störend fanden, dürften sich über solche Kollateralschäden der autofreien Stadt heimlich freuen.
Die Zurückdrängung des privaten Autoverkehrs braucht also eine Gentrifizierungsbremse. Wer nachweisen kann, dass er oder sie auf das eigene Auto angewiesen ist, muss es auch weiter nutzen können. Wer seinen Lieferwagen braucht, um als Handwerker über die Runden zu kommen, muss sich nicht verteidigen müssen. Und wer sich ohne Auto nackt fühlt, darf sich auch in Chrom kleiden dürfen. Teurer darf es aber gerne werden, wenn das Auto nicht beruflich gebraucht wird.
Vielleicht teilen sich Maik und Mesut dann mal einen tiefgelegten BMW, wenn es für zwei nicht mehr reicht. Auch eine Art von Sharing. Uwe Rada
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