Kommentar Koalitionsvertrag: Erstaunlich progressiv

Die Große Koalition hat keinen großen Plan. Aber bei allen Mängeln setzt sie ein paar Prioritäten goldrichtig: Europa, Mittelschicht, Kinder.

Gruppenbild mit Merkel, Seehofer und Schulz

Die Regierung in spe wirkt ja auf viele so aufregend wie lauwarmer Kamillentee Foto: dpa

Wagen wir mal etwas Verrücktes, nämlich ein Lob der Großen Koalition. Die Regierung in spe wirkt ja auf viele so aufregend wie lauwarmer Kamillentee. Puh, schon wieder eine Groko, wie langweilig und unambitioniert ist das denn, mit solchen Thesen lässt sich jedes Partygespräch bestreiten. Doch das Bündnis, das CDU, CSU und SPD eingehen wollen, ist erstaunlich progressiv. Diese Koalition setzt ein paar Prioritäten goldrichtig.

Da wäre zuallererst das viel versprechende Europa-Kapitel. Die Koalition gibt endlich eine Antwort auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Und es ist nicht die schlechteste. Sie bekennt sich zur deutsch-französischen Partnerschaft, zu mehr sozialen Investitionen und zur Aufstockung der deutschen Beiträge für den EU-Haushalt. Das Bündnis stünde also für das Versprechen, den deutschen Egoismus zu stoppen, für Stabilität und für Zuverlässigkeit. Allein das sind starke Argumente.

Die SPD hat bei der Verteilung der Ministerien einen großen Erfolg eingefahren. Sie wird – neben ihrem Stammressort Arbeit und Soziales – das Finanzministerium und das Auswärtige Amt besetzen. Die Sozialdemokraten haben damit eine echte Chance, eine neue Europapolitik durchzusetzen.

Dringend nötig wäre es, nun sind sie in der Pflicht zu liefern. Wie solidarisch sich Deutschland in der EU verhält, ist eine der wichtigsten Zukunftsfragen. Jamaika mit der EU-skeptischen FDP an Bord wäre ein schwer kalkulierbares Risiko gewesen.

Kühlende Brandsalbe

Die zweite Priorität, die die Koalition richtig setzt, sind die sogenannten kleinen Leute. Viele Menschen kommen beim rasanten Wandel der Gesellschaft nicht mit, sie empfinden ihn als Bedrohung. Zu Recht spricht der Soziologe Heinz Bude von einer „Grundstimmung der Gereiztheit“, die den Rechtspopulisten nutzt. Die Große Koalition verteilt nun kühlende Brandsalbe.

Überall im Koalitionsvertrag finden sich Ideen, die der unteren Mittelschicht das Leben erleichtern. Ob es die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, die Parität bei den Krankenkassenbeiträgen ist – oder die Tatsache, dass der Soli erstmal nur für Normalverdiener wegfällt, aber nicht für Spitzenverdiener. Ein Busfahrer, ledig, 2.400 Euro brutto im Monat, hätte dadurch laut SPD 370 Euro im Jahr mehr in der Tasche. Keine Unsumme, aber auch kein Kleckerbetrag.

Bildung finanzieren

Eine dritte Priorität der Koalition wären die Kinder. Auch sie würden von der angeblichen Langeweile profitieren. Dass Bildungserfolg unabhängig vom Einkommen der Eltern möglich sein muss, ist seit Jahren eine der wichtigsten progressiven Forderungen. Ausgerechnet die Groko könnte hier einen großen Schritt gehen, indem sie dem Bund die Finanzierung von Schulen erlaubt. Der Fall des Kooperationsverbotes wäre eine kleine Revolution.

Ja, die Große Koalition hat keinen großen Plan, ihre Protagonisten wirken erschöpft und ihre kalte Ignoranz gegenüber Flüchtlingen und der Klimakrise ist fürchterlich. Aber klar ist auch: Diese Regierung würde die Republik an vielen Stellen ein bisschen gerechter machen. Und eine Bessere ist leider nicht in Sicht.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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