Wut über ein Wort: Wer „leider“ sagt, lügt
Die Steile These: Jeder weiß es, jeder macht es und das muss aufhören. Denn jedes „leider“ ist gelogen.
E s gibt Dinge, die wirken für die einen wie eine Kleinigkeit, und für die anderen entscheidet sich an diesem Ding die Welt. Ich kenne Menschen, die bekommen einen Vogel, wenn sich das Klopapier von der falschen Seite abrollt, wenn im Kühlschrank die Gurke zu nah am Stinkekäse liegt oder die Zahnpastatube nicht richtig zugeschraubt ist.
Jeder hat so eine Kleinigkeit, bei der andere sagen, man solle sich nicht so reinsteigern. Doch man selbst weiß: Die anderen sehen es nur nicht. Sie wissen nicht, dass sich an dieser „Kleinigkeit“ die großen Fragen des Lebens entscheiden.
Meine Kleinigkeit ist eigentlich kein Ding, es ist ein Wort. Es hat zwei Silben und sechs Buchstaben: „leider“. Jeder kennt dieses scheinbar unscheinbare Wort, mit dem die meisten Absagen wahlweise beginnen, enden oder ausgeschmückt sind.
Kommst du am Freitag zum Grillen?
Leider bin ich geschäftlich verhindert.
Die Kinder haben leider die Grippe.
Ich bin schon auf einer anderen Party, leider.
Zugegeben, beim letzten Satz kränkelt die Grammatik, aber ich habe alle drei schon gehört. Und ich wette, Sie haben gestern erst selbst geleidert.
Ich sage: Wir müssen damit aufhören, denn „leider“ ist eine Lüge. Eine dreiste, unkaschierte Ins-Gesicht-Lüge. Und das Schlimmste: Jeder weiß es.
Wenn wir leidern, passiert etwas Schreckliches. Wir leugnen unseren freien Willen. Liebe Uschi, ich kann leider nicht zu deiner Hochzeit kommen – ist wie ein ausbuchstabiertes Schulterzucken. Ich tu so, als gäbe es eine kosmische Macht, die mich davon abhält, auf Uschis Party zu gehen. Ich impliziere: Ich kann nichts dafür. Lüge! Ich will nur Uschis Gefühle nicht verletzen.
Klar, denn: Hey, du bist nur zweite Wahl, die andere Option hat gewonnen – ist zwar authentisch, aber nicht nett. Das ist der vermutlich schwerwiegendste Grund für ein „leider“. Wir wollen dem anderen kein fieses Gefühl geben und ziehen uns darum auf diese gesellschaftlich kodierte Lüge zurück.
Die Fortgeschrittenen unter uns sind schon so weit, dass sie vor dem Abschicken der eigenen Nachricht noch mal draufschauen und das „leider“ nach kurzem Zögern löschen. Weg damit. Versuchen Sie es mal! So schmeckt Freiheit.
Befreiung
Das Weglassen dieses kleinen Lügenworts ist ein emanzipatorischer Akt. Ich befreie mich regelmäßig davon. Warum? Es ist ehrlicher. Denn die Wahrheit ist, sorry, liebe Uschi, ich gehe wirklich lieber zur Hochzeit meiner Schwester als auf deinen Geburtstag. Nix leider. Das nennt sich emotionale Priorisierung.
Jetzt sehe ich die Kritiker schon süffisant lächeln und sagen: Ja gut, Hochzeit der Schwester gewinnt immer. Darum nehmen wir ein anderes Beispiel: Serie schauen und Pizza essen. Manchmal gibt es Tage, da ist mir das wichtiger als eine Party, ein Kaffeetreff oder eine Skype-Verabredung. Auch hier ist „leider“ eine Lüge.
Zugegeben – manchmal tun einem Dinge wirklich leid. Aber, liebe Leute, das kann man dann auch anders sagen. Man muss sich nur eben mehr Mühe geben und sich nicht nur auf ein Wort beschränken.
Liebe Uschi, ich bin auf der Hochzeit meiner Schwester und kann nicht auf deine Party kommen. Schade, ich hätte gerne mit dir angestoßen.
Geht auch, ist ehrlich, braucht kein „leider“.
Es gibt kniffligere Situationen, ich weiß. Ich bin Journalistin, würde mich das Büro von Angela Merkel anrufen und mir ein Exklusivinterview mit unserer Bundeskanzlerin zum Thema Korruption im Bundestag anbieten und es wäre der gleiche Termin wie die Hochzeit meiner Schwester – nee, sagen wir die Hochzeit meiner Freundin –, dann wäre das Scheiße. Aber nicht beleidernswert. Auch hier geht es ehrlich:
Hallo Freundin, ich schaffe es nicht zu deiner Hochzeit. Sorry, Angie ist mir dazwischengekommen! Ich hab dich trotzdem mehr lieb.
Hier sind zwei Dinge gleichzeitig wichtig. Die Hochzeit ist vielleicht emotional wichtiger, aber … Willkommen im Zeitalter der Vernunft! Eine Bitte des Chefs übertrumpft die Cocktailparty, eine Projektabgabe die Erstkommunion der Nichte. Vernünftige Priorisierung. Wir dürfen nur nicht vergessen: Wir könnten auch anders. Denn wir müssen gar nichts außer sterben. Und wenn wir leidern, leugnen wir das.
Autsch!
In letzter Zeit hören immer mehr Menschen in meinem Umfeld auf zu leidern. Obwohl ich glühende Befürworterin dieser Entwicklung bin, muss auch ich mich erst noch daran gewöhnen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Hey Sara, ich kann nicht zu deiner Party kommen, bin schon auf einer Hochzeit.
Ich denke: autsch. Und dann erst: danke. Das ist ehrlich und nett und eröffnet mir sogar die Möglichkeit, mich für den anderen zu freuen. Oh, wie toll, Hochzeit. Und nicht: Dumme Kuh, versetzt mich wegen einer blöden Hochzeit.
Noch besser hat es neulich eine Bekannte von mir gemacht. Klassische Situation: Gruppenchat, WhatsApp, 23 Menschen drin, eine hat Geburtstag. Nach und nach flattern Zusagen rein, dann drei Absagen. Alle enthalten das Wort „leider“. In einer stand es sogar zweimal. „Leider können wir nicht kommen, wir sind leider schon auf einem anderen Geburtstag.“
Ich, kurz davor, mich richtig hart in meine Leider-Wut reinzusteigern, starre auf den Bildschirm, und dann macht es pling. Eine neue Nachricht. Eine Absage. Die ehrlichste und beste, die ich je gelesen habe: „Hallo du, ich kann nicht zu deinem Geburtstag kommen. Garnichtleider bin ich in Südafrika.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht