Westeuropa und seine Grenzen: Ein widersprüchliches Selbstbild
Europa unterscheidet in gute und böse Geflüchtete. Wäre der Kontinent so zivilisiert, wie man hier gerne behauptet, so wären alle gleichzubehandeln.
A ls Wladimir Putin seinen Militärapparat angewiesen hat, die ganze Ukraine anzugreifen, fiel ich – wie viele Menschen auf dieser Welt – in ein tiefes Loch. Man muss keine Expertise für russisch-ukrainische Beziehungen mitbringen, um den existenziellen Charakter dieses Angriffskriegs für die Menschen in der Ukraine, die russische Opposition und den Rest Europas und der Welt zu verstehen. In einer Kolumne plädierte ich nach dem Einmarsch der russischen Armee dafür, dass unser aller Aufmerksamkeit zumindest für einen Moment vor allem anderen auf die Ukraine gerichtet werden sollte. Ich stehe immer noch dazu – auch wenn es mir und so vielen anderen Menschen sehr schwer fällt.
Empfohlener externer Inhalt
Denn die meisten Kriege haben internationale Implikationen. Bedeutet: Wenn an einem bestimmten Ort Bomben fliegen, kann das Hunderte oder Tausende Kilometer weit weg Menschen ebenfalls irgendwie betreffen. Der Krieg zeigt schmerzvoll auf, dass die Weltordnung im staatszentrierten, machtpolitischen Sinne, aber auch mit Blick auf die Andersmachung von Menschen auf den Prüfstand gestellt werden sollte.
Kurz: Stell dir vor, es herrscht Angriffskrieg und einige Menschen haben immer noch den Nerv für Rassismus. Doch dieser Text geht über die dokumentierte, gefährliche und empörende Diskriminierung von verletzbaren Minderheiten im Kontext des Ukraine-Kriegs hinaus. Der Westen, insbesondere die Europäische Union und ihre Verbündeten, setzen der russischen Angriffsrhetorik und Putins Gewalt ein Friedens- und Zivilisationsnarrativ entgegen, das in der Realität so gar nicht gelebt wird. Welche Auswirkungen hat diese europäische Vorgehensweise auf den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften, vor allem aber auf die nun flüchtenden Menschen aus der Ukraine?
Während die Menschen in der Ukraine sterben und vor dem Tod fliehen, stellen Kommentatoren europaweit einen Vergleich zum Jahr 2015 auf, dem Jahr, als Flüchtende aus dem Nahen und Fernen Osten über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa kamen – und es bricht sich in diesen Kommentaren eine Flut der Doppelstandards Bahn.
Offener Rassismus in den Kommentaren
Hier nur einige Beispiele der vergangenen Tage. Die Neue Zürcher Zeitung formuliert schlicht: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge“ – und legt mit „echte“ nahe, dass die vor Krieg und Elend flüchtenden Menschen aus dem Jahr 2015 aus Langeweile oder einer lustigen Laune heraus einen Spaziergang gen Norden machten. In der FAZ argumentiert ein Autor, dass „die meisten Flüchtlinge, die damals über die Türkei in die EU kamen, strenggenommen Migranten waren“. Mit anderen Worten: Die sind nicht in Gefahr gewesen, wir waren damals nicht streng genug, die wollen wir nicht hier bei uns haben, anders als unsere Geschwister aus der Ukraine. Bei der RTL-Sendung „Stern TV“ sagt ein Gast über die Ukraine: „Dies ist eine Nation, ein Land, das uns beeindruckt in diesen Tagen, was fleißig ist, was wissbegierig ist, was neugierig ist, das unsere Werte teilt. Deswegen verstehe ich, dass die Willkommenskultur bei uns hier in Deutschland, aber auch in Polen und Ungarn, eine ganz andere ist als bei früheren Flüchtlingskrisen.“ Ich denke, dass dieses Zitat für sich spricht.
Das sind nur drei von unzähligen Beispielen, die in kürzester Zeit über journalistische und soziale Medien verbreitet wurden. Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern. Dass ein Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft anders wirkt, verstehe ich. Dennoch stimmt bei der entsprechenden Emotionalität etwas nicht.
Die beste Illustration dafür ist der Umgang mit Geflüchteten 2015 und heute in Ungarn. Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, die am 3. April 2022 Parlamentswahlen überstehen muss, markierte Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien in einer beispiellosen Kampagne als vom jüdisch-ungarischen Philanthropen und US-Milliardär George Soros entsandte Eindringlinge, die nicht nach Europa und am besten erschossen gehörten. Der Kontrast zur nun herzlichen Aufnahme ukrainischer Flüchtender, unter ihnen auch viele ungarischstämmige Ukrainer*innen (teilweise mit EU-Pass), könnte nicht größer sein. Dieser Haltung – wie bei „Stern TV“ geschehen – mit Verständnis zu begegnen wirft ein grelles Licht auf die Verhältnisse, die auf diesem Kontinent herrschen.
Doch nicht nur diskursiv zeigt sich, wie die Asylpolitik in Europa eigentlich wie ein Mülltrennsystem funktioniert: Es wird so getan, als würden die einen eine wertvolle Ressource darstellen, während die anderen angeblich nicht zu verwerten seien. Es drängt sich dabei zumindest die Frage auf, ob bei der Gestaltung der europäischen Fluchtpolitik humanitäre Intentionen im Vordergrund stehen – oder nicht doch neoliberale Hintergedanken.
Nicht alle können sich hinter diesem „Europa“ versammeln
Gänzlich unbekannt war mir – als Reporter, der sich mit Flucht und Migration seit Jahren auseinandersetzt – die EU-Richtlinie 2001/55/EG. Diese durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 20. Juli 2001 verabschiedete Direktive sollte nach den Fluchtbewegungen aus dem Balkan in den Neunzigerjahren dafür sorgen, dass Flüchtende ohne bürokratische Hürden auf die ganze EU verteilt werden können. Bei Aktivierung sorgt die Richtlinie dafür, dass Schutzsuchende aus einem bestimmten Land unkompliziert Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnisse und soziale Absicherung erhalten, sich ihren Aufenthaltsort in der EU auswählen und somit das Dublin-Verfahren umgehen können. Die EU hat 2001/55/EG wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine aktiviert: Ukrainische Staatsbürger*innen können so ohne Bürokratie in die EU einreisen, bleiben, arbeiten, ihre Kinder in die Schule schicken.
Das ist gut und richtig. Im Jahr 2015 dagegen blieb Richtlinie 2001/55/EG in Brüsseler Schubladen liegen. Die Entscheidungsträger*innen in der EU und die Regierungschefs der Mitgliedsländer verschwiegen der Bevölkerung aktiv, dass es diese juristisch präzis vorbereitete Option überhaupt gibt. 2015 stellten die Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien oder dem Jemen für viele politische Entscheider*innen den Untergang des Abendlands dar, 2022 sind die Geflüchteten aus der Ukraine der Kitt, der das Abendland überhaupt zusammenhält. Im Sinne von: Jetzt müssen wir uns selbst retten.
Als ich nach Beginn der Putin’schen Aggression von der Richtlinie 2001/55/EG erfahren habe, fiel ich in ein noch tieferes Loch. Die Tatsache, dass seit 2015 an den EU-Außengrenzen aufgerüstet wurde und die EU-Grenzschutzbehörde Frontex laut Medienberichten Flüchtende in den Tod getrieben, auf Schutzsuchende geschossen hat; die Tatsache, dass mit dem Erdoğan-Regime auf Betreiben Angela Merkels ein Flüchtlingspakt geschlossen wurde, im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos das Elend der dort gefangenen Flüchtenden als Abschreckung zur Schau gestellt wurde und viele Beobachter*innen diese Abschottung noch aktiv verteidigt haben, das alles wirft eine große moralische Frage auf: Gibt es für dieses Europa legitime Kriegsflüchtende und jene, die ruhig von Bomben zerfetzt werden sollen?
Ein perfider Aspekt des Angriffskriegs in der Ukraine ist, dass Wladimir Putin seit Jahren und bis heute an anderer Stelle dafür übt. In Syrien verbündete sich Putin mit der iranischen Führung, der libanesischen Hisbollah und dem Assad-Regime, um die Menschen dort von der Luft aus mit Fassbomben zu ermorden und am Boden wie Vieh in die Flucht zu treiben. Wenn man so will, gelten also für die einen Putin-Flüchtenden fundamentale Menschenrechte, die anderen, die aus aus Syrien oder Tschetschenien stammen, sollen ruhig krepieren. Und genau das macht es für viele Menschen, die über das Narrativ eines neuen europäischen Gemeinschaftsgefühls im Zuge des Ukraine-Kriegs hinausdenken können und wollen, so schwierig, sich ohne Vorbehalte hinter diesem „Europa“ zu versammeln. Obgleich dieses Europa ja zu Recht das russische Regime für seinen Angriffskrieg verurteilt.
Das Grenzregime teilt in zwei Kategorien
Putin ist der gemeinsame Nenner zwischen Ukraine und Syrien, dennoch trennt die beiden Fälle so einiges. Während sich in der Ukraine hauptsächlich zwei staatliche Kriegsparteien gegenüberstehen, greift das syrische Regime im Kontext eines unübersichtlichen, internationalisierten Kriegs seine eigene Bevölkerung an. Das ist eine wichtige Feststellung, um eine zentrale Behauptung zu demontieren, die immer wieder im Diskurs instrumentalisiert wird: Während die heroischen ukrainischen Männer für ihr Land kämpften (eigentlich: per Dekret kämpfen müssen), flöhen die feigen syrischen Männer ins Ausland.
Eine menschenverachtende Haltung, die von einem eurozentrischen Desinteresse zeugt. Eine Haltung, die eigentlich findet, dass irgendwelche Araber (oder Muslime) doch bitte in Foltergefängnissen nach Vorbild der DDR-Stasi verschwinden, von Panzern bei lebendigem Leib überrollt oder von russischen Streubomben zerfetzt werden sollen. Ja, ich bin fassungslos, wie normalisiert es ist, bestimmten Menschen das Recht auf Leben zu verwehren. Das nicht nur in Worten, sondern auch ganz konkret und greifbar.
Denn da sind ja noch die unzähligen Fälle von nichtukrainischen Staatsbürger*innen, die an den EU-Außengrenzen laut Medienberichten entweder von ukrainischen oder zum Beispiel polnischen Behörden an der Flucht aus dem Kriegsgebiet aktiv gehindert wurden und werden. Zehntausende nigerianische, marokkanische oder indische Studierende, Arbeiter*innen oder schlicht Bürger*innen, die sich zur „falschen Zeit“ in der Ukraine aufgehalten haben, durften und dürfen sich nicht in Sicherheit bringen. An einem polnisch-ukrainischen Grenzübergang, so beschreibt es ein Reporter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, kategorisiert das europäische Grenzregime die Menschen in zwei Gruppen: Alle ukrainischen Staatsbürger*innen dürfen ohne große Nachfragen passieren, Schwarze Menschen und People of Color müssen tagelang ausharren und werden noch nicht mal darüber informiert, wie es für sie weitergeht.
Die einen gelten als Flüchtende, die anderen können – wenn es nach so vielen europäischen Entscheider*innen geht – krepieren. Sie betreffen das Abendland nicht emotional und müssen deswegen nicht direkt gerettet werden. Das ist nur falsch.
Willkommenskultur kann schnell kippen
Der Dichotomie zwischen schutzbedürftigen und entmenschlichten Flüchtenden liegt ein Trugschluss zugrunde: dass die Ukrainer*innen in Europa und Deutschland auf ewig willkommen sein werden. Aber erinnern wir uns: Auch 2015 herrschte an einigen Orten in Deutschland durchaus beachtliche Aufnahmebereitschaft, auf die Politiker*innen heute gern romantisierend und verstörend stolz verweisen. Dann aber kippte die Stimmung schnell, als man überall im politischen Spektrum begann, die eigene weiße Überlegenheit gegenüber den ankommenden Geflüchteten zu betonen – und Konsequenzen daraus zu ziehen: den Pakt mit Erdoğan, die Schrecken von Moria, die Frontex-Politik.
Im Handumdrehen kann ein Diskurs entstehen, der slawischen Osteuropäer*innen die Menschlichkeit entzieht – das lehrt die deutsche Geschichte. Wer heute herzlich aufgenommen wird, muss morgen nicht unbedingt willkommen sein. Derlei identitäre Konstruktionen eines christlich geprägten, kulturell kompatiblen, weiß imaginierten Abendlandes, welches mittlerweile Mittel- und Osteuropa mit einschließt, sind opportunistisch. Wenn sie nicht mehr passen, wird schnell umformuliert. Das könnte vielen Ukrainer*innen zum Verhängnis werden. Vor allem jenen, die dieser Imagination des homogenisierten „Wir“ nicht entsprechen: ukrainische Jüdinnen*Juden (das sind mehr als 50.000 Menschen), muslimische Krimtataren (250.000), ukrainische Romn*ja (400.000). Diese Minderheiten unter dem Schlagwort „christlich“ zu einem homogenen Klumpen zu kneten, ist für die Minderheiten selbst lebensgefährlich – spätestens dann, wenn die rechtsextreme, putinverliebte AfD und ihre Freund*innen im Plenum endgültig aufwachen.
Und dann ist da noch das Unverständnis, dass es in Europa überhaupt Krieg geben kann. Viele Beobachter*innen im Westen wundern sich unverblümt darüber. Zum Beispiel betonte ein Reporter des US-Fernsehsenders CBS, dass die Ukraine kein Ort „wie Afghanistan oder Irak“ sei: Die Ukraine „ist ein relativ zivilisierter, ein relativ europäischer – ich muss meine Worte mit Bedacht wählen – Ort, wo man so etwas nicht erwarten würde“, sagte der Reporter. Im zivilisierten Europa, so drückt diese Sicht aus, kann es anders als im unzivilisierten Afghanistan oder Irak keinen Krieg geben.
Der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Kolonialisierung der Welt werden so zu trivialen Nacherzählungen aus Schulbüchern oder Museen gemacht. Der Balkankrieg oder der Nordirlandkonflikt werden dabei ganz vergessen. Es wird verdrängt, dass europäische Armeen oder die Nato in internationalisierten Kriegen mitmachen, die „weit weg“ in Mali oder in Afghanistan stattfinden. Dass sich viele den Krieg im vermeintlich hyperzivilisierten Europa nicht vorstellen konnten, ist mit eine Ursache dafür, dass die Ukraine der Aggression des russischen Regimes ausgeliefert ist.
Die Grundlage der Zivilisation
Die Sicht des CBS-Reporters ist kein Einzelfall: Eine Reporterin des britischen Fernsehsenders ITV äußerte ihr Erstaunen darüber, dass die Ukraine ja „kein Land der Dritten Welt“ sei und nun Krieg „in Europa!“ herrsche. Erstaunlich viele ukrainische Politiker*innen drücken ihre Empörung aus, dass nun „blonde Menschen mit blauen Augen gekillt“ würden.
Der bulgarische Premierminister Kiril Petkow versuchte erst gar nicht, seine Worte „mit Bedacht zu wählen“, als er über den Unterschied zwischen den ukrainischen und den nichtweißen Flüchtenden sprach: „Dies sind Europäer. Sie sind intelligent (…). Dies sind keine Flüchtlinge, wie wir sie in den Wellen zuvor gesehen haben, (…), die Terroristen sein könnten.“
All refugees are welcome, müsste nun die Formel heißen, damit Europa überhaupt zivilisiert sein kann. Doch die Empirie zeigt, dass derzeit in Europa nicht alle Flüchtenden willkommen sind. Die „europäische Wertegemeinschaft“ muss ihren Rassismus und ihre vermeintliche Überlegenheit überwinden – jetzt. Spätestens in Zeiten von Krieg und Flucht wird diese Selbstreflexion zur Grundlage der Zivilisation selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin