Wahlrecht-Urteil vom Verfassungsgericht: Abspeckkur mit Korrekturbedarf
Dass im Bundestag künftig rund einhundert Abgeordnete weniger sitzen, ist ein großer Verdienst der Ampel. Reformbedarf bleibt beim Wahlrecht dennoch.
![Ein Mann trägt einen Stuhl im Bundestag Ein Mann trägt einen Stuhl im Bundestag](https://taz.de/picture/7150342/14/35961204-1.jpeg)
K aum war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform öffentlich, riefen CSU-Chef Markus Söder und andere Politiker der Union lautstark: „Schon wieder eine Klatsche für die Ampel!“ Das aber stimmt nur zum Teil – und auch nur zu einem kleinen. Im Kern hat Karlsruhe die Reform, die die Ampelfraktionen im März 2023 im Bundestag beschlossen haben, bestätigt. Und das ist gut so.
Damit haben SPD, Grüne und FDP es nach mehr als zehn Jahren folgenloser Diskussion endlich geschafft, die Größe des beständig anwachsenden Bundestags wirksam zu begrenzen. Und damit gezeigt, dass das Parlament in der Lage ist, sich selbst zu reformieren. Das ist ein großes Verdienst. Das im Übrigen nur möglich war, weil die CSU derzeit auf der Oppositionsbank sitzt. Die Christsozialen haben jahrelang mit der CDU im Schlepptau jede Reform blockiert, weil sie von der alten Regelung enorm profitierten.
Gut ist aber auch, dass die Richter*innen in Karlsruhe das neue Wahlgesetz der Ampel in einem wichtigen Punkt korrigieren: Die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel bei gleichzeitiger Geltung der Fünfprozenthürde erklärten sie für verfassungswidrig; jener Klausel also, nach der Parteien auch dann in den Bundestag einziehen, wenn sie zwar weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten, aber mindestens drei Direktmandate holen. Die Ampelparteien wollten die Klausel ursprünglich beibehalten.
Erst eine Woche vor Beschlussfassung im Bundestag wurde sie Hals über Kopf gestrichen. Damit schien sich der bis dahin verhältnismäßig faire Gesetzentwurf gegen die politische Konkurrenz zu richten. Das ist ein berechtigter Vorwurf, zumal das Wahlrecht mit einfacher Mehrheit allein der Ampel beschlossen worden war. Die Linke hatte es schließlich nur mithilfe ihrer Direktmandate 2021 wieder in den Bundestag geschafft, auch für die CSU, die bundesweit gerechnet knapp über fünf Prozent lag, hätte es künftig eng werden können.
Fünfprozenthürde sollte gesenkt werden
Für die nächste Bundestagswahl wird nun wohl die Grundmandatsklausel noch einmal gelten. Dass sich die Ampel so kurz vor der Wahl an eine Reform der Reform macht, ist eher unwahrscheinlich. Danach aber wird dies Aufgabe einer neuen Regierung sein. Wünschenswert wäre dabei zweierlei: dass die Union, die dieser vermutlich angehören wird, anders als angekündigt nicht versucht, die gesamte Reform wieder zu kippen.
Das Wahlrecht darf nicht zum Spielball von Regierungsmehrheiten werden. Und zweitens: dass bei der vom Gericht vorgeschriebenen Veränderung nicht die Grundmandatsklausel bleibt, sondern die Fünfprozenthürde abgesenkt wird. Weniger Stimmen würden verloren gehen, die Repräsentanz im Bundestag würde also erhöht. Und die Aussicht, mit Erfolg auch für kleinere Parteien zu votieren, könnte ein neuer Anreiz sein, sich an Wahlen überhaupt zu beteiligen.
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