Verlogenheit beim Flüchtlingsthema: Würdeloses Gefeilsche
Deutschlands Flüchtlingspolitik ist beschämend: Man nennt eine Zahl, gibt sich mitfühlend – und weiß, dass Innenminister Seehofer sowieso Nein sagen wird.
D eutschland und die EU hängen in Sachen Flüchtlinge und Asyl in einem nie endenden Murmeltiertag fest. Weil eine gemeinsame, die Probleme wirklich angehende Politik aufgrund nationaler Egoismen nicht zustande kommt, geht das Gefeilsche um die Aufnahme von Menschen in Not immer wieder von vorne los. So war es nach dem Flüchtlingssommer 2015, als Horst Seehofer, damals noch CSU-Chef, unbedingt eine „Obergrenze“ von 200.000 Flüchtlingen für Deutschland wollte. Als ob sich die Zubilligung von (Menschen-)Rechten zahlenmäßig beziffern ließe.
So ist es nach jeder geglückten Seenotrettung im Mittelmeer: In der Regel vergehen Tage und Wochen, bis die Menschen an Land dürfen, weil sich erst ein paar Länder gnädig bereit erklären müssen, sie aufzunehmen.
Jetzt hat der Basar wieder geöffnet: 100 bis 150 Geflüchtete meint Bundesinnenminister Seehofer nach der Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria aufnehmen zu können – natürlich nur, wenn andere EU-Länder mitziehen. „Beschämend“, kommentierte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Zahl ganz richtig – allerdings bietet auch Berlin mit seinem geplanten Landesaufnahmeprogramm, dem Seehofer weiter die Zustimmung verweigert, bislang nur bis zu 300 Plätze an. Dabei stehen in der Hauptstadt seit Monaten rund 2.000 Plätze in Flüchtlingsheimen leer, weil die europäische Abschottung so gut funktioniert.
Deutlich beeindruckender ist da schon das Gebot vom Bewerber um den CDU-Vorsitz Norbert Röttgen, der 5.000 Geflüchtete aus Moria nehmen würde. „Es ist unser christlich-demokratischer Anspruch an Politik, dass wir jetzt helfen“, erklärte er am Wochenende. Was an 5.000 „christlich-demokratisch“ ist, wenn es akut um mehr als 13.000 obdachlose Menschen geht, bleibt sein Geheimnis.
Ist aber auch egal – Hauptsache, man nennt eine Zahl und gibt sich mitfühlend. Da man weiß, dass Seehofer sowieso Nein sagt, kann man auf diese Art billig Beifall einheimsen bei allen WählerInnen, denen die Lage an den EU-Außengrenzen schon lange und zunehmend Magenschmerzen verursacht.
Dasselbe gilt für die verlogenen Krokodilstränen, die sich manche PolitikerInnen gerade aus den Augen pressen. Etwa SPD-Chefin Saskia Esken, die per Twitter verkündete: „Die #Verzweiflung der Geflüchteten verträgt kein Warten mehr. Wir wollen jetzt handeln.“ Das sah dann so aus, dass am selben Tag, am Freitag, ihre Fraktion im Bundestag gegen den Antrag der Linksfraktion stimmte, die 13.000 Geflüchteten aus Moria in Deutschland aufzunehmen. So viel zum Thema Menschlichkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen