Ukrainischer Vormarsch auf Russland: Die Schlacht bei Kursk
Die ukrainischen Truppen sind bei ihrer Offensive weit auf russisches Territorium vorgerückt. Der Erfolg ist Ergebnis der neuen Mobilisierung.
Nach dem Vorstoß ukrainischer Truppen in das russische Gebiet Kursk dauern die Kämpfe in der Grenzregion nach Angaben aus Russland den dritten Tag in Folge an. Die Washingtoner Denkfabrik Institute for the Study of War teilte am Mittwoch mit, dass die ukrainischen Truppen bis zu zehn Kilometer auf russisches Territorium vorgedrungen seien.
Das ist ein bemerkenswerter taktischer Erfolg für die Ukraine. Ein Wendepunkt im Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist es den meisten Militärexperten zufolge allerdings nicht. Von einer Wiederholung der „Schlacht bei Kursk“ 1943 im Zweiten Weltkrieg kann also keine Rede sein. Ein Misserfolg des russischen Aggressors ist es dennoch. Die russische Seite hat offenbar Fehler gemacht – und zwar weniger die kämpfenden Einheiten als vielmehr die Nachrichtendienste und die Spionageabwehr.
Die ukrainischen Truppen sind weiter auf russisches Territorium vorgerückt, als die russische Seite bei der Offensive auf Charkiw im Mai und Juni gekommen war. Die Reaktion des russischen Militärs kann man nicht gerade als blitzschnelle, vernichtende Antwort bezeichnen. Trotzdem bleibt die Lage an der gesamten Front für Kyjiw ernst, sowohl im Gebiet Sumy im Norden als auch im südlicheren Donezk.
Größte Geheimhaltung
Bislang gibt es keine Informationen darüber, dass sich die russische Infanterie und andere Einheiten von der Front zurückzögen, um sie in die Region Kursk zu verlegen und dort die ukrainischen Invasoren auszuschalten. In Anbetracht der russischen Luftüberlegenheit dürften aber die nächsten Tage für die ukrainischen Einheiten in der Region Kursk nicht leicht werden.
Die ukrainische Militäroperation wurde offenbar unter größter Geheimhaltung auch vor den westlichen Verbündeten vorbereitet. Das zeigt sich auch in der etwas überraschenden Erklärung der amerikanischen Regierung: die nämlich hat die Führung in Kyjiw um Informationen über die Offensive gebeten. Zu verdanken ist sie in erster Linie dem neuen ukrainischen Online-Mobilisierungssystem. Jeder Wehrpflichtige muss sich dabei selbst in eine Datenbank eintragen. Tut er das nicht oder erscheint nicht rechtzeitig zur Musterung, macht er sich strafbar.
Dadurch hat sich die Zahl einsatzfähiger Soldaten offenbar erhöht. Den Behörden zufolge gibt es erstmals wieder ausreichend Nachschub an Kämpfern. Erstmals halten sie es perspektivisch für möglich, diejenigen, die seit mehr als zwei Jahren an der Front sind, gegen neue Rekruten auszutauschen.
Kämpfte man im Juni noch mit akutem Personalmangel, können sich die ukrainischen Streitkräfte jetzt eine öffentlichkeitswirksame Ablenkungsaktion leisten, mit der sie den Gegner demoralisieren und gleichzeitig die Stimmung im eigenen Land heben. Umfragen zufolge ist die Zahl der Ukrainer, die sich für Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Kyjiw und Moskau aussprechen, so hoch wie noch nie seit Kriegsbeginn und nähert sich langsam der Fünfzig-Prozent-Marke.
Drohnenangriffe und Stromausfall
Mit dem aktuellen Angriff auf die Region Kursk will Präsident Wolodymyr Selenskyj seinem Volk zeigen, dass die Ukraine vorankommen und die russischen Angreifer zumindest aus einem Teil der von ihnen bisher besetzten Gebiete vertreiben kann. So war das milliardenschwere US-Militärhilfepaket nicht der einzige wichtige Schritt auf dem Weg der ukrainischen Armee, aus der Unterlegenheit herauszukommen.
Auch die Drohnenkoalition, in der die europäischen Partner der Ukraine eine bedeutende Rolle spielen, stärkt Kyjiw weiter. Erst vor wenigen Tagen berichteten Nachrichtenportale diesbezüglich von einer Wende zugunsten der sich verteidigenden Ukraine. Im Juli wurde das Land von 426 Shahed-Drohnen aus Russland angegriffen.
Im gleichen Zeitraum schoss die Ukraine mehr als 520 Langstrecken-Angriffsdrohnen auf Russland ab. Die russischen Drohnen zielen vor allem auf die ukrainische Energieinfrastruktur. Die Ukrainer ihrerseits konzentrieren sich darauf, Flugplätze und Ölraffinerien in Russland zu zerstören.
Ein Mitarbeiter der Staatlichen Universität Kursk sagte der taz: „Zwei-, dreimal täglich gibt es hier Luftalarm, nachts noch ein paarmal mehr.“ Fensterscheiben klirrten, Alarmanlagen der Autos heulten. Auch die Fernsehübertragung werde durch den Luftalarm und die Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen, unterbrochen. Das Internet falle während des Alarms aus.
Der Krieg hat nun in voller Härte russisches Territorium erreicht. Das, was die westlichen Staaten mit ihrer Unentschlossenheit und der unzureichenden militärischen Unterstützung Kyjiws in den ersten beiden Kriegsjahren verhindern wollten – eine Ausweitung des Blutvergießens über die ukrainischen Grenzen hinaus –, ist Wirklichkeit geworden.
Laut russischem Verteidigungsministerium hinderten russischen Streitkräfte die ukrainischen Einheiten am Donnerstag daran, tiefer in der Region Kursk vorzudringen. Kremlchef Wladimir Putin bezeichnete den ukrainischen Vorstoß am Mittwoch als eine „groß angelegte Provokation“. Ukrainische Regierungsvertreter haben sich bisher nicht zum Umfang der Operation rund um den Ort Sudscha geäußert. Es ist nicht möglich, die russischen Angaben unabhängig zu prüfen.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
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