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Sturz des Assad-RegimesFreut euch über Syrien!

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?

Damaskus, Syrien, 13. Dezember: Freude beim Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee Foto: Ammar Awad/reuters

L enin soll einst gesagt haben, eine Revolution in Deutschland sei unmöglich, weil die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie einen Bahnhof stürmen. Gut 100 Jahre später gibt es in Deutschland gar keine Bahnsteigkarten mehr und die Deutschen erkennen eine Revolution nicht einmal, wenn sie in Echtzeit auf ihren Smartphones zugucken. Die syrische Revolution, also der Sturz des faschistischen Assad-Regimes durch Rebellen unter dem Jubel der Bevölkerung, ist das schönste Ereignis des unschönen Jahres 2024, aber der deutsche Blick darauf ist vor allem von Negativität geprägt.

„Dschihadistische Milizen“ hießen die syrischen Rebellen von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zu Beginn ihres Feldzuges tagelang in allen großen deutschen Medien. „Islamisten stürzen Syriens Diktator – Einheiten der Terrormiliz HTS kontrollieren die Hauptstadt“ titelte zu Ende ihres Feldzuges die Süddeutsche Zeitung, Deutschlands auflagenstärkstes überregionales Qualitätsblatt. „Wer kommt nach Assad? In Syrien herrscht Chaos“, schreibt eine Woche später die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Spiegel titelt „Das syrische Experiment“, die Zeit fragt: „Wie lange hält der Jubel?“.

Und das ist nur der vermeintlich aufgeklärte Mainstream. Am politischen Rand sieht es ganz finster aus. „Gelegenheit macht Diebe: Kommt nun der Asyl-Pendelverkehr zwischen Syrien und Deutschland?“, fragt die neurechte Junge Freiheit, „Westen sucht Kontrolle“ und „Werben um Dschihadisten“ konstatiert die vermeintlich linke Junge Welt.

Bloß nicht freuen, bloß nichts Positives sehen: Das ist der gemeinsame Unterton. Begeisterung? Um Gottes willen, es sind doch Araber und Muslime, seit dem 7. Oktober 2023 weiß man da Bescheid. Es wird geraunt und sich gefürchtet, HTS wird mit dem „Islamischen Staat“ verwechselt, Fake News machen die Runde, die syrische Revolution wird im gleichen Atemzug als dschihadistische Machtergreifung und als zionistisches Komplott verunglimpft.

Die Rebellen richten gar kein islamistisches Terrorregime ein? Sie „geben sich gemäßigt“, heißt es dann. Christen können sich frei betätigen? Na ja, man weiß aber nicht, was kommt. Kurden werden von protürkischen Milizen angegriffen? Da sieht man doch, wo das alles hinführt. Syrer, die in Deutschland feiern? Raus!

„Islamisten“ sind bekanntlich die Bösen, sie wollen einen Gottesstaat, sie herrschen mit Gewalt, man kann ihnen nicht trauen. „Syrische Islamisten“ wurden schließlich schon mehrfach als mutmaßliche Terroristen in Deutschland aufgegriffen. Die HTS ist als Terrororganisation gelistet, es laufen vor deutschen Gerichten Prozesse wegen HTS-Unterstützung.

In der Ungewissheit liegt die Chance

Zur Erinnerung: Das Terrorregime in Syrien war jenes Regime, das gerade gestürzt worden ist. Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz, sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu gründen, plural und vielfältig. Und zugleich muss eine Staatsmacht die administrativen Strukturen wiederherstellen und die Weichen für ein auf Dauer freies Syrien stellen.

Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht. Aber genau darin liegt die Chance. Es ist nichts vorbestimmt. Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989 liegt genau darin – in dieser Offenheit, die Kräfte freisetzt und Utopien möglich macht.

Dafür muss sich der Rest der Welt massiv engagieren, und zwar nicht zur Wahrung eigener Interessen, wie es die Türkei und Israel gerade tun, sondern mit derselben Begeisterung wie die Menschen in Syrien selbst und mit Begeisterung für diese Menschen.

Die einst gegen Assad verhängten Syrien-Sanktionen müssen fallen. Die geschlossenen Botschaften müssen wieder öffnen, der syrischen Diaspora muss Reisefreiheit gewährt werden, die Verbrecher müssen vor Gericht kommen, der Wiederaufbau muss starten. Es geht nicht nur um den „Schutz von Minderheiten“, wie es mantraartig oft heißt. Es geht um den Schutz des gesamten syrischen Volkes.

Europa darf jetzt nicht abwarten

Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft.

Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten. „Assad oder wir verbrennen das Land“ war die Parole der Mordmilizen, die Syrien in Schutt und Asche legten und vor denen Millionen nach Europa flohen. Die Mörder hielten Wort – und sind doch gescheitert. Jetzt gilt es, gemeinsam das verbrannte Land aus der Asche zu heben.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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38 Kommentare

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  • Die linke junge Welt war ein guter Witz.

  • "Wo bleibt die Begeisterung?"

    Vornehmlich in Syrien und vielleicht ist das auch gut so. Die "westliche" Freude über den Arabischen Frühling hat auch nicht geholfen. Mehr als schwache Hoffnung ist zumindest bei mir nicht drin so lange die Religion immer noch vor Freiheit steht.

    "Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989"

    Wie bitte?! Das ist das erste Mal, dass mir dieser Vergleich begegnet ist, und ich halte ihn gelinde gesagt für einigermaßen weit hergeholt. Den passenden, ernüchternden Vergleich habe ich oben genannt.

    "Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten."

    Ausgerechnet Europa, abzüglich der Türkei, hatte in Syrien bisher rein gar nichts zu melden. Und daran hat sich rein gar nichts geändert. Die Aufnahme der Flüchtlinge war eine Übung in Menschlichkeit, mehr nicht. Es war kein Handel, in dem man sich Einfluss auf Entwicklungen in Syrien erkauft hätte.

    Bei aller berechtigter Kritik an haarsträubenden Abschiebereflexen einiger Politiker, man sollte sich der Realität stellen, dass Europas Einfluss mehr oder weniger bei den Sanktionen und der Asylfrage endet.

  • Die HTS ist als dschihadistische Terrormiliz gelistet. Das ändert sich auch nicht durch ein paar nette Reden. Die Taliban haben sich nach dem Einmarsch in Kabul auch erst mal gemäßigt gegeben.

    Also wundern Sie sich bitte nicht Herr Johnson, wenn der nicht männliche, nicht heterosexuelle Teil der Bevölkerung ihren frühen Jubel nicht teilt und erst einmal vorsichtig ist.

    PS: Assad Junior wurde vor vielen Jahren in deutschen Zeitungen als Hoffnungsträger gefeiert. Die Entwicklung hat den damaligen Optimismus Lügen gestraft.

  • Ich bin etwas erstaunt über diesen Artikel. Skepsis scheint mir bei HTS durchaus angebracht: Führungspositionen werden offenbar nur an HTS-Mitglieder vergeben. Von geplanten Wahlen habe noch nichts gehört und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Wie ich gelesen habe, wurde Christen in Damaskus bereits mitgeteilt, Weihnachten doch bitte leise zu feiern, weil sich Muslime durch die Glocken gestört fühlen könnten. Das klingt nicht eben nach freier Religionsausübung. Dazu sollte man sich die Entwicklung der iranischen Revolution mal ansehen. Auch die wurde von verschiedenen Kräften, darunter auch Demokraten und Linke getragen. Nach dem Sieg der Revolution wurden die wichtigsten Positionen von den Islamisten besetzt und dann alle anderen Gruppen unterdrückt, verfolgt und teilweise hingerichtet.



    Für Syrien ist aus meiner Sicht im Moment noch nicht die Zeit, irgendjemanden dorthin zurück zu schicken und auch jeglichen Jubel halte ich für verfrüht. Unterstützung gerne, aber da sollten auch konkrete Auflagen dran geknüpft werden!

  • Also ich erinnere beim Wort Assad immer dunkel einen Spiegelartikel von vor 25 Jahren, da kamen die Thronfolger an die Macht, auch in Jordanien und Marokko. Tenor, nun kommen die westlich ausgebildeten jungen Wilden, modern mit modernen Ehefrauen ubd alles wird gut. Insofern halte ich abwarten nicht für die schlechteste Herangehensweise.

  • Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft.



    Das Dilemma des Westens nicht nur in Syrien.

    • @aujau:

      Und wie hätten sie sich dieses "Fingerheben" vorgestellt?



      Militäreinsatz wie in Afghanistan, Libyen oder Irak? War ja ein voller Erfolg.

      • @Dschou:

        Und gegen all die Miltäreinsätze war ganz sicher die taz! Aber in Syrien wäre das ok gewesen?

  • 2011 während des sog. "Arabischen Frühlings" war, soweit ich mich erinnere, die Berichterstattung und Kommentierung recht positiv gestimmt. Auch anderswo werden Revolutionen in der Regel wohlwollend beachtet. Nach den schlimmen Erfahrungen der letzten 13 Jahre in Syrien, zusätzlich zum Machtwechsel mit "moderaten" Taliban in Afghanistan 2021ff., haben bewirkt, dass der Optimismus etwas verflogen ist.



    Dass die politische Debatte schnell um den Aspekt einer "Rückführung" erweitert wurde, ist hingegen ein ganz anderer Aspekt, der, gleichwohl mit zynischem Ton geäußert, doch von einem Optimismus bzgl. der weiteren Entwicklung geprägt ist.

  • Ich freue mich für Syrien und sehe die Chance auf einen ordentlichen Neuanfang. Ein bisschen Angst habe ich auch denn es gibt viele Mächte die Interesse daran haben dort mitzuspielen.

  • Danke für diese Klarstellung und Kritik, die sich nicht nur auf die Maistream- Medien/Politik beziehen sollte, sondern auch auf Teile der linken Öffentlichkeit. Seit Beginn der Syrischen Revolution von 2011 erlaubte es die ideologische Schere im Kopf vieler Linker nicht, diese als emanzipatorischen Prozess gegen die Assad- Diktatur zu verstehen. Zum einen aus einer grundsätzlich antiwestlichen Ideologie heraus, die Assad/Putin irgendwie für das kleinere geopolitische Übel hielt, zum andern auch aus einem falsch verstandenen Solidaritätsverständnis mit dem kurdischen emanzipatorischen Projekt "Rojava", das sich der nationalen Revolution damals nicht ansschloss, um nicht zwischen den Fronten von Assad/Russland/Iran/Hisbollah auf der einen Seite und Islamisten/Türkei auf der anderen Seite zerrieben zu werden.Dervorübergehende Stillhaltepakt mit dem DiktatorAssad, der trotzdem Rojava in seiner Autonomie bedrohte, vertiefte aber die Spannungen zwischen arabischer und kurdischer Bevölkerung in Syrien. Es ist an der Zeit, dass Internationale Solidität, ein Pfeiler linker identität, nicht nur exklusiv für Rojava gilt, sondern auch inklusiv für den gesammtsyrischen Befreiungsprozess.

  • Natürlich ist das etwas sehr Schönes und sei es für ein paar Wochen der Freiheit.

    Wie kommt's dann? Zum einen ist "Islamist" zum neuen Gottseibeiuns aufgebaut worden, um etwa Israels Dauer-Bomben zu entschuldigen, zum anderen gab es ja wirklich die Fälle wie Ägypten und Libyen in der Region, wo Knospen rasch abfroren.



    Ja, und natürlich unsere vorherrschende und sicher auch vorteilhafte Skepsiskultur.



    Alles sollte uns nicht daran hindern, Syrien nun zu helfen, im ganz eigenen Interesse. Ihr syrischer Arzt wird Sie als Klassisch-Deutschen vielleicht dann noch freundlicher behandeln : )

  • Warum ich nicht in Jubel ausbreche? Weil Libyen und Afghanistan. Oder die Türkei, die immer mehr zum islamistischen Gottesstaat wird.

  • Ich erinnere mich noch an den Sturz des Schah und die Jahre danach. Daher mein Mangel an voreiligem Jubel, ersetzt durch vorsichtige aber stille Hoffnung.

  • Ja, grundsätzliche Freude über einen Diktator weniger!

    Für die Zukunft scheint es aber ebenfalls Gründe für vorsichtigen Optimismus zu geben. Die HTS hat ja nicht vor zwei Wochen Kreide gefressen, sondern schon während ihrer Zeit der Kontrolle über Idlib bereits eine "säkulare und effiziente Verwaltung" (Zitat taz) aufgebaut, also ohne Scharia.

    Sie müssen darauf aufbauen und sehen, dass die extremistischen Gruppen in ihrer Allianz nicht putschen.

  • "Wo bleibt die Begeisterung?"



    Da jetzt Islamisten an der Macht sind, hält sich meine Begeisterung ziemlich in Grenzen. Und es gibt sicherlich auch etliche Syrer, die das genauso sehen.

  • Warum die Öffentlichkeit Vorbehalte hat ?

    Sonst ist man hier doch nicht so Geschichtsvergessen, die Öffentlichkeit weiß halt noch wie das im Irak, Ägypten, Tunesien,



    Libyen und Afghanistan ausgegangen ist. Chaos, Bürgerkrieg oder



    einfach der nächste Diktator bzw. ein islamistisches Regime.

    Dass man da erstmal zurückhalten ist, ist doch eine ganz natürliche



    Reaktion.

  • Ein paar wichtige Punkte: Assad läuft immer noch frei herum, anscheinend nicht mit leeren Taschen. Es sind nicht alle Teile Syriens unter der Herrschaft der HTS, den IS gibt es noch und die Türkei hat noch immer Interesse im Norden einen kurdischen Staat zu unterdrücken. Dazu noch Israel das nicht besonders berechenbar ist. Dass sich der neue Chef Damaskus al Golani nennt hilft in Bezug auf Israel auch nicht.



    Aber: Die HTS hat die letzten Jahre gezeigt dass es ihr daran liegt Syrien wieder in einen Normalzustand zu überführen mit funktionierdem öffentlichen Service und ohne einen islamischen Fantismus als Ziel.



    Das steigert meine Hoffnung ungemein und ich würde mir wünschen dass die EU der neuen Regierung massive Investments und Erleichterungen sowohl in Sachen Wirtschaft als auch für die nächsten Jahre Reisefreiheit für die Bevölkerung ermöglicht wenn sich wirklich ein demokratischer Wandel vollzieht und die Konflikte mit Kurden, Türken und Israelis beenden kann. Leicht wird es nicht, aber die EU sollte sich unterstützend einbringen und mit Erdogan und Netanjahu reden. Jene Syrer die aus der EU zurückkehren müssen wir als wichtige Brückenbauer betrachten.

  • "Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft."



    Danke, Dominic!



    Und ich möchte noch ergänzen:



    "Wie unfähig Europa mittlerweile ist, sich mit etwas anderem als den eigenen Befindlichkeiten und Ängsten zu beschäftigen, hat ­diese Revolution ebenfalls demonstriert. Kaum dass es eine Anstands­minute der Anteilnahme, gar der Freude gegeben hätte, schon er­heben sich mahnende Zeigefinger: Die Islamisten kommen!



    Gleichzeitig begann der Kontinent eine wahnhafte Rückkehrdebatte. So schnell kann man gar keinen Präsidentenpalast plündern: Wann gehen sie denn nun die Syrer, morgen erst, oder nicht besser schon gleich? Überhaupt, richtige Veränderungen, die würde man hierzulande gerne gesetzlich verbieten. Die europäische Unfähigkeit, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, steht in einem nur noch grotesk zu nennenden Missverhältnis zu den Herausforderungen, die nun im Nahen Osten auf den Kontinent zukommen."



    jungle.world/artikel/2024/50/sturz-

  • "Bloß nicht freuen, bloß nichts Positives sehen: Das ist der gemeinsame Unterton. Begeisterung?"

    Ich gestehe: eine anfängliche Freude wich schnell einer Skepsis als ich mich an die Rückkehr der afghanischen Taliban erinnerte: wurde nicht auch dort anfänglich versprochen, Frauen dürften weiter Schulen und Universitäten besuchen?

    Dass sich Dominic Johnson als Brite seinen Glauben und seinen Optimismus ("We send the EU £350 million a week - let's fund our NHS instead - Vote leave - Let's take back control") bewahrt hat, ehrt ihn sehr.

    In Zeiten, in denen die Lüge das neue Normal ist, ist Skepsis jedoch nicht vollkommen unangebracht.

    Selbstverständlich ist dem syrischen Volk eine gute Zukunft zu wünschen!

  • „Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz, sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu gründen, plural und vielfältig.“

    Die HTS hat in eigenen Berichten davon gesprochen, dass sie die letzten Jahre versucht hat die anderen Gruppen unter ihre Kontrolle zu bringen um dann einheitlich diese führen zu können. Dies, der Terror gegen Druzen und Frauen, aber auch Kurd*innen zB in Idlib, wo sie regierten zeigen, dass auch wenn der Bürgerkrieg von pluralistischen Kräften geführt worden ist, die HTS kein Akteur dieser Strömungen ist.

    Die HTS hat sich militärisch organisiert an die Spitze der Bewegung gesetzt. Das ist auch was Lenin von links gefordert hat, aber dadurch wird sie nicht links.

    Meine syrischen und kurdischen Freunde, gerade Frauen, sehen der Sache skeptisch zu. Wollen die doch Pluralismus, aber haben keine Machtbasis und die Verfassung dürfte auch an ihnen vorbei geschrieben werden.

    Freunde über ein Ende von Assad und Folter z.t. Vernichtungsgulag ist gut, aber Videos von IS und HTS Grüppchen die Israel oder Ungläubige vernichten wollen machen bereits die Runde.

  • Danke, ich empfinde es auch so.

    Als ich 1989 im Fernsehen die Bilder von den tanzenden Menschen auf der für mich ewigen Berliner Mauer sah und eine Studienfreundin voll begeistert schon am nächsten Tag zur Partie in Berlin fuhr, habe ich erstmal gar nicht kapiert, was passiert. 2011 habe ich das nachgeholt und mit den Tunesiern im Stadtzentrum von Marseille getanzt. Auch wenn Tunesien eine Reihe Jahre später wieder zu einer Autokratie geworden ist, solche Momente muß man leben und genießen.

    Aber so ist die Mehrheit der Deutschen, um ihren Komfort bekümmert, verkrampft, empathielos .... und permanent verängstigt. Dabei sollten sie doch auch wissen, dass nichts ewig währt, auch die eigene Demokratie nicht. Feiert, solange man Euch lässt!

  • Danke!

  • Der Feind meiner Feinde muss nicht mein Freund sein. Zurückhaltung ist angebracht und wie gut solche Umstürze klappen haben wir in den letzten Jahrzehnten oft genug gesehen. Man erinnere sich an Libyen, Irak, Afghanistan. In ein Machtvakuum stoßen eben nicht nur die Freunde der Demokratie. Ja, die neuen Machthaber in Syrien sind wohl besser als Assad...aber das ist auch nicht schwer. Ob man nun hoffen darf, dass sich die Rechte von Frauen und Minderheiten verbessern...glaub ich nicht. Syrien war früher sehr liberal. Das kommt jetzt nicht wieder. Selbst viele Syrer sind vorsichtig und wollen nicht vorschnell zurück.

    Daher ist freundliches Beobachten und Abwarten die richtige Lösung, bis sich klar zeigt, wer das Sagen haben wird und ob es das besser macht.

  • Sehr optimistisch von Herrn Johnson. Die hierher geflüchteten Syrer warten selber ab, wer sich letztendlich in Syrien durchsetzt. Die Führer der HTS waren früher die Führer on al-Nusra, dem al-Quaida-Ableger in Syrien. Ob sie sich wirklich geläutert oder nur wie der böse Wolf im Märchen Kreide gefressen haben? Das wird die Zukunft zeigen. In Revolutionen setzten sich oft die Radikalsten durch - siehe französische Revolution (Robespierre) oder russische Revolution (Lenin).



    Und was Befreiungskriege/Aufstände angeht, so ist Herr Johnson ein ausgewiesener Experte für Afrika, hier waren auch nur wenige Anführer, die ihr Land in die Unabhängigkeit führten, dann auch gute Regierungschefs (Kenyatta, Mandela), die meisten wurden zu kleptomanischen Autokraten. Das ist durchaus übertragbar: Man darf für Syrien hoffen, dass es gut ausgeht, sicher damit rechnen kann (und darf) man nicht.

  • Vielleicht sollten Sie ihrem Berufsstand mal Supervision vorschlagen, das kann die eigene Haltung nachdrücklich verbessern.



    Ansonsten teile ich ihre Einschätzung einer mangelnden Empathie, richtig angewidert hat mich die erste öffentliche Einlassung von Jens Spahn nach dem Sturz von Assad.



    Manchmal denke ich , die Deutschen interessieren sich hauptsächlich fürs Biertrinken und Geldmachen. Und Fußball.



    Armes Deutschland.

    • @Ninotschki:

      > richtig angewidert hat mich die erste öffentliche Einlassung von Jens Spahn

      Damit sind Sie nicht allein. Die CxU scheint schon im besoffenen Siegestaumel zu sein, das Bild von Söder in Warschau setzte auf Spahn noch einen drauf. Hochmut kommt vor dem Fall...

  • Die Syrer, die ich kenne, sind kurdische Frauen und die feiern gar nichts. Außer, dass sie inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft und Jobs und Wohnungen und ihre Kinder an der Uni haben. Nuance, Baby!

  • Danke, Herr Johnson, für Licht zur Klarstellung und Motivation!

  • "Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?"



    Das liegt wahrscheinlich daran, dass eine islamistische Rebellengruppe das Regime vertrieben hat - und beim Wort "islamistisch" den meisten Bomben, Anschläge, ISIS und die Taliban vors geistige Auge treten.



    Zumal der Rebellenführer selbst knapp 20 Jahre in Diensten von Al-Qaida und ISIS stand... - also ja, man möge uns unsere Skepsis verzeihen.



    Schön das Assad weg ist, ich warte aber ab was danach kommt - wenns ein weiteres Lybien, Jemen, Afghanistan etc wird, dann seh ich wenig Grund für Partystimmung.

  • Grund zur Freude sehe ich eigentlich nur für hereosexuelle muslimische Männer. Für alle anderen Gruppen sind ja schon die ersten Tage der neuen Machthaber wegweisend.



    Ich hoffe ob der in wenigen Monaten sicher einsetzenden erneuten Flüchtlingsströme aus Syrien, dass wir diesmal etwas über die Region gelernt haben und eine Frauenquote einführen um uns wirklich mal ausnahmsweise der vulnerablen Gruppen anzunehmen.

    • @Šarru-kīnu:

      Man sollte doch aus dem zwanzigjährigen Afghanistan-Debakel des Westens zumindest gelernt haben, dass das Anlegen westlicher Wertmaßstäbe auf fremde Staaten bzw. Gesellschaften nur zu Ernüchterung führt.

      Wir sollten uns nicht länger in eurozentristischer Arroganz suhlen, wenn es um die Perspektive Syriens geht. Schauen Sie sich das CNN Interview mit Dscholani an. Der Mann hat nicht die Aura eines religiösen Hardliners. Die neue syrische Führung hat eine Chance verdient.

      • @TronaldDumb:

        Wir sollten hoffentlich gelernt haben uns rauszuhalten und kein Geld für sinnlose Nation-building Projekte in der Region mehr in den Sand setzen.



        Der einzige Player in der Region der immer mit westlichen Maßstäben gemessen wird ist Israel wie wir alle wissen. Alle anderen haben dort scheinbar so eine Art strukturelle Behinderung.

    • @Šarru-kīnu:

      Sie bestätigen die Einschätzung des Autors zu hundert Prozent. Chapeau Herr Johnson.

    • @Šarru-kīnu:

      Frei nach dem Motto : "Es gibt gibt keine Muslime, nur Islamisten", wie? Danke für die Bestätigung dass der Artikel vollkommen richtig liegt.

    • @Šarru-kīnu:

      Ich kann Ihnen nur zustimmen , besonders zur Frauenquote !



      Freuen können sich nur heterosexuelle muslimische Männer , für Frauen, Schwule, Lesben, Transpersonen, religiöse Minderheiten sehe ich mehr Schatten als Licht.

    • @Šarru-kīnu:

      Gleich wieder Maximalforderungen die zwar wünschenswert aber zur Zeit wohl kaum realisierbar sind. Erstmal braucht es stabile und friedliche Verhältnisse, die die Basis für gesellschaftlicher Veränderungen bilden. Frauenrechte oder die rechte von Minderheiten sind hier auch nicht von Heute auf Morgen vom Himmel gefallen. Die sofort einsetzende Diskussion über die Abschiebungen von Syrern, zeugt nicht gerade von moralischer Überlegenheit unsererseits.

  • Ich bin in Sorge um den Schutz von Minderheiten in Syrien.