Parteitag der Grünen: Atomkraft und andere Zumutungen
Die Grünen stimmen den zwei AKWs im Süden als Einsatzreserve zu, lassen ihrem Minister darüber hinaus aber kaum Spielraum.
Wer hätte das gedacht. Debatten um unpopuläre Entscheidungen gab es in der Partei zuletzt ja wieder vermehrt. Ein Abnicker-Verein wollen die Grünen explizit weiterhin nicht sein. Kaum ein Redner, kaum eine Rednerin kommt in Bonn ohne die Beteuerung aus, wie ernsthaft man doch um die richtigen Wege in der Krise hadere, ringe, streite und diskutiere.
Da ist einerseits was dran. Andererseits sind die Grünen im Jahr 2022 aber doch eine disziplinierte Partei: Bis kurz vor Beginn des Parteitags verhandelten Antragssteller*innen, Antragskommission und Bundesvorstand über Kompromisse, um offen ausgetragene Konflikte und Kampfabstimmungen zu vermeiden. In den meisten Fällen gelang das, so dass etliche Streitfragen auf der Parteitagsbühne gar nicht mehr verhandelt werden müssen.
Möglich wurde das zum Teil durch Abschwächungen ursprünglicher Forderungen, zum Teil aber auch durch die Bereitschaft des Vorstands zu harten Formulierungen – nicht zuletzt bei dem Thema, dass derzeit für den meisten Ärger mit dem Koalitionspartner FDP sorgt: der Atomkraft.
„Eine Zumutung“
Den Ton in dieser Debatte setzt Umweltministerin Steffi Lemke, die auch für nukleare Sicherheit zuständig ist. Die Vorlage des Bundesvorstands sei „eine Zumutung“, sagt sie – und dürfte damit vielen im Saal aus der Seele gesprochen haben. Lemke betont die Gefahren der Atomkraft, teilt gegen die Unionsspitze aus, die diese Gefahren verharmlose – und wirbt dann dafür, den Antrag des Bundesvorstands anzunehmen.
„Jetzt stehe ich hier vor einem Grünen-Bundesparteitag und werbe um eure Zustimmung für diese Zumutung“, sagt sie. Angesichts einer möglichen Krise im Winter halte sie die Einsatzreserve aber für vertretbar.
Diese „Zumutung“ hatte zuvor Parteichefin Ricarda Lang vorgestellt und dabei die Delegierten beschworen, nicht zu vergessen, warum die Grünen sich dieser Debatte nun stellen müssten. „Wir führen diese Diskussion, weil Wladimir Putin sich entscheiden hat, Energie als Waffe einzusetzen“, so Lang. In den Antrag des Bundesvorstands waren kurz vor Beginn des Parteitags noch zahlreiche Änderungen eingearbeitet worden, allein der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin hatte acht Änderungseinträge gestellt – unter anderem für ein festes Enddatum eines möglichen Streckbetriebs.
Jetzt sieht der Antrag vor, dass die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden. Das dritte noch verbleibende AKW Emsland soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet werden. Die Beschaffung neuer Brennstäbe, wie es FDP und Union fordern, schließt der Antrag aus. „Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der neue Brennelemente, noch dafür notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden sollen“, heißt es.
Zähneknirschend zugestimmt
Der Gegenentwurf, der später auch zur Abstimmung stehen wird, will am Atomausstieg zum Jahresende festhalten und spricht sich gegen Streckbetrieb und Laufzeitverlängerung aus. „Wer garantiert uns, dass wir den 15.4. nicht auch kippen?“, sagt einer der Unterstützer, der Delegierte Karl-Wilhelm Koch aus der Vulkaneifel. Es sei gefährlich, den mühsam ausgehandelten Ausstieg aus der Atomkraft aufzulösen.
Doch schon während der Debatte wird klar, dass die meisten Delegierten sich – wenn auch zähneknirschend – hinter den Antrag des Bundesvorstands stellen. Was bleibt ihnen auch? Mit einer Ablehnung würden sie nicht nur ihre Bundesspitze, die gerade erst seit acht Monaten im Amt ist, massiv schwächen, sondern auch Robert Habeck, ihren wohl wichtigsten Minister, auf offener Bühne demontieren. Dieser hatte die AKW-Reserve vorgeschlagen und zuletzt deutlich gemacht, dass er davon ausgeht, dass ein Weiterbetrieb nötig werden wird.
Habeck greift auch selbst in die Debatte ein. Die beiden Atomkraftwerke, sagt er, könnten im kommenden Winter einen sehr begrenzten Beitrag zur Sicherung der deutschen Stromversorgung leisten. Deshalb bitte er „als Minister, der am Ende für die Versorgungssicherheit zuständig ist“, um Zustimmung.
Am Ende nehmen die Delegierten mit großer Mehrheit den Antrag des Bundesvorstands an. Damit stärken sie Habeck den Rücken, lassen ihm aber auch keinen Spielraum für weitere Zugeständnisse an die FDP. Die Parteispitze hatte kurz vor dem Beginn des Parteitages betont, dass die Entscheidungen für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend seien. „Warum sollen wir sie sonst beschließen?“, sagte Parteichef Omid Nouripour.
Solidarität und Wut
Noch mehr zu tun als zum Tagesordnungspunkt Atomkraft hatte die Antragskommission vorab mit dem Leitantrag des Vorstands zu Inflation, Wirtschaftskrise und sozialem Ausgleich. Zu ersterem waren 22 Änderungsanträge eingegangen, zu letzterem ganze 75. Bis zum Beginn des Parteitags gelang es aber in allen Fällen, einen Kompromiss auszuhandeln. Mögliche Streitpunkte sind weitestgehend abgeräumt, als die Debatte am Freitag beginnt.
„Machen wir aus dem Winter der Wut einen Winter der Solidarität“, fordert Co-Parteichefin Ricarda Lang in ihrer halbstündige Rede. Standing Ovations wird sie danach erhalten, ihr Beitrag kommt gut an in der Halle.
In der Rede zählt sie auf, was die Ampel bisher an Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht hat. Sie betont, dass die Grünen vieles davon vorangetrieben hätten und nicht etwa die SPD. Sie bekennt, dass das bisher beschlossene trotzdem noch nicht reiche. Und sie versucht sich an einer Erzählung, in der Verteilungsfragen zentraler Teil grüner Politik sind: Im Kern gehe es Grünen um Gerechtigkeit, das gelte beim Geld genauso wie beim Klima oder im Feminismus.
Lang, seit Jahresbeginn im Amt, setzt seit langem auf ein sozialpolitisches Profil. Sie entwickelt sich zum Gesicht der Partei in einem Bereich, indem den Grünen traditionell wenig Vertrauen entgegengebracht wird, was ihr wiederum gerade jetzt in der Krise Probleme bereiten kann. Ganz zutreffend ist das Image der Grünen als Partei für Wohlhabende zwar nicht mehr, das beweisen auch viele andere Beiträge in der Debatte auf dem Parteitag.
Unterschiedliche Akzente
Andererseits gibt es aber auch Spitzengrüne, die ihre Akzente ganz anders setzen als Lang. „Ricarda hat von der sozialen Not gesprochen und so ist es“, sagt zwar Robert Habeck in seiner Rede zum Inflations-Antrag. Viele Menschen wüssten nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Dann ist das Thema bei ihm aber auch schon erledigt und er, ganz Wirtschaftsminister, geht über zu den Problemen der Wirtschaft, Noch aufmerksamer als bei Habeck muss man bei einer Videobotschaft von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zuhören, um zumindest einen Halbsatz zur Sozialpolitik zu erhaschen.
Was aber beschließt der Parteitag am Ende? In den Leitantrag übernommen wird zum Beispiel die Forderung nach einem Mietmoratorium: In Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt sollen Mieterhöhungen in der Krise für sechs Monate verboten werden. Die Grünen wollen auch höhere Regelsätze für das neue Bürgergeld. Eine konkrete Summe wird im letztlich beschlossenen Antrag zwar nicht genannt, dafür aber eine grundlegende Neuberechnung der Sätze.
Und die Grünen fordern jetzt, dass in der Krise „auch Menschen mit sehr hohen Vermögen etwas abgeben“. Auf einen Änderungsantrag von Bundestagsvizepräsidenten Katrin Göring-Eckardt geht dieser Beschluss zurück. Wegverhandelt hat der Bundesvorstand allerdings die konkrete Benennung des Instruments, das sich die Ex-Fraktionschefin gewünscht hatte: eine Vermögensabgabe.
Allein schon für den Antrag war die Bild-Zeitung die Grünen angegangen. Aus der FDP kamen Warnungen vor „Arbeitsplatzvernichtung“ und „Ideologie“. Auch hier noch einen harten Konflikt einzugehen: Das wagen die Grünen bei aller Liebe zur Gerechtigkeit offenbar nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen