Menschenrechtsverletzungen durch Israel: „Baerbocks Rhetorik ist entmenschlichend“
Arabische Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Bundesregierung und fordern, sie solle Israel keine Waffen mehr liefern.
taz: Frau Boulakovski, Sie fordern gemeinsam mit 16 weiteren arabischen Menschenrechtsorganisationen ein deutsches Waffenembargo gegen Israel. Warum?
Tanya Boulakovski: Wir, insgesamt 17 lokale und internationale Organisationen, möchten ein Massensterben unter der Zivilbevölkerung verhindern. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur an Israel – ein Land, das derzeit vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes angeklagt ist und das auch im Südlibanon Zivilist*innen, medizinische Teams und Krankenwagen bombardiert und Dörfer dezimiert.
Welche Menschenrechtsverletzungen kritisieren Sie im Libanon?
Seit dem 17. September hat Israel seine Angriffe auf den Libanon verstärkt und zivile Infrastrukturen, Zivilist*innen, medizinische Teams, Krankenwagen, Journalist*innen und humanitäre Helfer*innen angegriffen. Das verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, insbesondere gegen die Genfer Konventionen und ihre Protokolle. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums wurden bei wahllosen Angriffen auf Zivilist*innen seit dem 8. Oktober 3.287 Menschen getötet.
Sie vertritt Fälle von Menschenrechtsverletzungen vor internationalen Menschenrechtsgremien und ist Menschenrechtsbeauftragte bei MENA Rights Group. Gemeinsam mit 16 arabischen Organisationen haben sie sich in einem offenen Brief an den deutschen Botschafter in Beirut, Kurt Georg Stoeckl-Stillfried, gewandt.
Was fordern Sie von der deutschen Außenpolitik?
Wir sagen, Deutschland sollte auf entmenschlichende Äußerungen verzichten. Wir fürchten, das könnte Israel einen Anreiz und Rechtfertigung bieten, Zivilist*innen anzugreifen. Bei einer Rede im Parlament hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock behauptet, „wenn Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen“ würden, könnten „auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren; weil Terroristen diesen missbrauchen.“
Hat Baerbock nicht recht?
Diese Rhetorik ist gefährlich und könnte den Weg dafür ebnen, weitere Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen, im Libanon oder in Gaza. Angriffe auf zivile Infrastruktur dürfen niemals gerechtfertigt oder normalisiert werden. Daher rufen wir alle gemeinsam Deutschland dazu auf, sich vielmehr für die Einhaltung der internationalen Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen.
Welche Gesetze meinen Sie?
Zivilist*innen und zivile Infrastrukturen dürfen nicht angegriffen werden. Sie sind gemäß dem ersten Protokoll zur Genfer Konvention eindeutig geschützt. Das humanitäre Völkerrecht sieht eindeutig vor, dass Konfliktparteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden müssen. Sie dürfen nur gegen militärische Ziele vorgehen. Wahllose Angriffe, die in erster Linie dem Zweck dienen, Terror unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, sind verboten.
Wie wird der Begriff „Terror“ rechtlich definiert?
Es gibt keine international vereinbarte Definition von Terrorismus. Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung müssen im Einklang mit dem Völkerrecht angewandt werden. Aber viele staatliche Behörden verabschieden oft zu vage und weit gefasste Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, die nicht den internationalen Standards entsprechen. Sie nutzen sie dann als Instrument, um nach eigenem Ermessen gegen Andersdenkende vorzugehen und selbst gewaltlose Handlungen als terroristische Handlungen zu bezeichnen.
Israels Regierung sagt, sie bekämpfe nur Terroristen.
Schon 2021 und 2022 haben UN-Menschenrechtsexpert*innen gewarnt, dass die israelischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung gegen das Völkerrecht verstoßen und dazu genutzt werden können, legitime politische oder humanitäre Handlungen zu kriminalisieren und zu unterdrücken. Das untergrabe „die Sicherheit aller“. Das Ausmaß und die Schwere der Folgen, die dieser Missbrauch der Terrorismusbekämpfung haben, werden angesichts des andauernden israelischen Völkermords in Gaza deutlicher denn je.
Was meinen Sie damit?
Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung missachtet Israel das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte. Ungeachtet der Bedenken, die von den Vereinten Nationen vorgebracht wurden, hat Israel seine Antiterrorgesetze weiter verschärft. Erst vor zwei Wochen hat die Knesset zwei Gesetze verabschiedet, die darauf abzielen, auf der Grundlage von Terrorismusvorwürfen, das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) aufzulösen.
Wir müssen die Art und Weise, in der der weltweit der Kampf gegen den Terrorismus geführt wird, überdenken und verändern. Die internationale Gemeinschaft muss sich dazu verpflichten, den Menschenrechten eindeutig und bedingungslos Vorrang vor jeder anderen Agenda einzuräumen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau