Kritik an der Altkanzlerin: Merkels lautes Schweigen
Auch die ehemalige Regierungschefin erlag der Illusion eines friedlichen Europas. Dass ihre Politik der Beschwichtigung falsch war, streitet sie ab.
B utscha, Borodjanka, Mariupol – ukrainische Städtenamen, die für Massenmorde stehen. Hätte man die Barbarei verhindern und diesen Krieg voraussehen können? Die Frage, ob diese Tragödie abwendbar gewesen wäre, und die Frage nach der deutschen Rolle darin werden lauter. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk gibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der lange die Russlandpolitik mitbestimmte, eine Mitverantwortung und beschuldigt die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel der Fehlkalkulation.
Steinmeier gab in dieser Woche zu, sich in Putin geirrt zu haben, und nennt die Gaspipeline Nord Stream 2 einen Fehler. Doch diese Fehler waren auch Merkels Fehler, sie werfen ein anderes, trüberes Licht auf ihre Amtszeit. Merkel ließ dieser Tage verkünden, sie stehe zu ihrer Entscheidung im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel 2008. Auf dem Gipfel in Bukarest warb der amerikanische Präsident George W. Bush dafür, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen.
Deutschland und Frankreich waren dagegen – aus Rücksicht auf Russland. Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, diese Entscheidung sei falsch gewesen, denn wäre die Ukraine Nato-Mitglied, hätte Russland sie zu überfallen wohl kaum gewagt. Doch vergangene Entscheidungen lassen sich nie allein ex post bewerten, sondern nur im Kontext der historischen Verhältnisse.
Im Jahr zuvor hatte Putin seine Brandrede auf der Münchener Sicherheitskonferenz gehalten, vor der monopolartigen Machtstellung der USA gewarnt und die Nato-Erweiterung als „provozierenden Faktor“ bezeichnet. Womöglich hätte es ihm als Vorwand ausgereicht, die Ukraine schon damals zu überfallen, wenn die Mitgliedsländer dem schnellen Nato-Beitritt zugestimmt hätten. Hätte, wäre – wir wissen es nicht, weil wir die Folgen unserer Entscheidungen eben nicht voraussagen können.
Tatsächlich war es wohl ein strategischer Fehler, dass die EU sechs Jahre später nicht härter reagierte, als Putin die Krim annektierte und damit begann, die russischen Separatisten im Donbass mit Waffen zu versorgen. Statt Sanktionen verhängte die EU damals nur Sanktiönchen. Man ließ Putin billig davonkommen, weil das Verlangen nach billiger Energie größer war als die Sorge davor, sich zu eng an einen Autokraten zu binden, der seine Wirtschaft mit den Energie-Euros auf Krieg trimmte.
Nord Stream 2 trotz Krim-Annexion
Die Merkel-Regierung spielte eine Schlüsselrolle bei dieser Beschwichtigungspolitik. Ein Jahr nach der Annexion der Krim winkte sie trotz internationaler Warnungen den Bau von Nord Stream 2 durch – auch auf Druck des damaligen SPD-Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel – und ließ zu, dass deutsche Unternehmen ihre Gasspeicher an den russischen Staatskonzern Gazprom verhökerten. Die günstige Energie und der Wohlstand, den sie sicherte, schlugen die Bedenken.
Und die Mehrheit der Deutschen sah es ja ebenso. Kaum jemand empörte sich über die Abhängigkeit von Russland, sondern lieber über die skeptischen Grünen und zu hohe Preise. Merkel, die Strategin, die Staatslenkerin, hätte es eigentlich besser wissen müssen. Doch sie glaubte eben auch daran, dass nationale Aufgaben und wirtschaftliche Interessen kompatibel seien und man es Unternehmen überlassen könnte, beide wahrzunehmen.
Die der DDR-Planwirtschaft Entkommene scheute vor staatlichen Vorgaben zurück. Ein Kardinalfehler, wie sich auch bei anderen nationalen Großaufgaben zeigte. So ließ der Merkel’sche Nachtwächterstaat zu, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien stockte, weil Sonnenenergie zu teuer und Windkraft zu streitbehaftet war. So versandete die Digitalisierung, weil die Anbieter kühl kalkulierten, dass sich zusätzliche Funkmasten in der Uckermark oder der Eifel nicht rentieren.
So driftete die Gesellschaft weiter auseinander, weil jede Arbeit besser sein sollte als keine und Wohnen vor allem ein Markt und kein Grundrecht. Merkel, die die Dinge zusammenhalten wollte, hat weder die deutsche Gesellschaft noch den europäischen Kontinent zusammenhalten können. Sie wird ihren Anteil an Russlands Krieg sehen, aber sich wohl kaum dazu äußern. Es war nie ihre Art, die Dinge aus dem Off zu kommentieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut