Nato in Osteuropa: Osterweiterung des Denkens

Brandt statt Reagan, Abrüstung statt Aufrüstung: So wuchs unser Autor auf. Auf seinen Reisen durch Osteuropa lernte er einen Perspektivwechsel.

Menschen schauen zu, wie ein Panzer gegen einen Bus fährt

Sowjetischer Panzer in Prag am 21. August 1968 Foto: CTK/imago

Vor einigen Jahren bat ich den litauischen Schriftsteller und Übersetzer Antanas Gailius um einen Text über die Memel. Ich hatte ihn bei einer Lesung im Thomas-Mann-Haus in Nidden kennengelernt, und er sagte sofort zu.

In diesem Text erfuhr ich von der Geschichte von Gailius’ Familie. Einer seiner Onkel, die nach dem Krieg gegen die sowjetische Besatzung kämpften, wurde ermordet, sein Leichnam auf einem Marktplatz zur Schau gestellt. Ein anderer Onkel und eine Tante wurden verhaftet und zu Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Seine Eltern entgingen der Deportation nur, weil sie vorher gewarnt worden waren und zu Verwandten an die Memel zogen.

So „wusste ich mit fünf oder sechs bereits“, schrieb Gailius in seinem Memeltext, „dass es auf der Welt nicht nur Jurbarkas oder Kaunas gibt, sondern auch solche Orte wie Archangelsk, Ural oder Sibirien“.

Als ich selbst fünf Jahre alt war, im August 1968, sah ich im Fernsehen, wie russische Panzer durch Prag rollten. Menschen stellten sich ihnen entgegen, manche trugen Blumen in der Hand. Mein Vater war still, als er diese Szenen sah, er war 1951 mit seinen Eltern aus der Tschechoslowakei nach Deutschland ausgewandert, da war er 19.

Als ich selbst in diesem Alter war, verhängte in Polen General Jaruzelski das Kriegsrecht. Er wollte damit, so hieß es, verhindern, dass russische Panzer auch sein Land besetzten. Stattdessen verrichteten nun polnische Kommunisten das Werk der Sowjets – und versetzten ein ganzes Land in Schockstarre.

Vielleicht waren es diese Erlebnisse vor dem Fernseher, die mich, der ich in Schwaben aufgewachsen war, sensibel machten für das, was im Osten Europas geschah. Und doch sollte es noch lange dauern, bis ich die Perspektive der Menschen dort, bis ich auch ihre Angst vor der Sowjetunion und später Russland wirklich begriff.

Vorbild Willy Brandt

Als im Oktober 1983 eine halbe Million Menschen im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung amerikanischer Pershing II und Cruise Missiles in Deutschland demonstrierten, war auch ich mit dabei. 400.000 waren zugleich in Hamburg auf der Straße, im Südwesten bildete sich eine über 100 Kilometer lange Menschenkette. „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“, davon war ich überzeugt. Es war ein verlockendes Narrativ und die Losung einer Generation, die sich ganz der Aufarbeitung des Nationalsozialismus verschrieben hatte.

Das Narrativ der Aufrüstung dagegen hielt ich für gefährlich, für mich war es die Fortführung einer militaristischen deutschen Tradition, die den Faschismus erst ermöglicht hatte. Nicht Ronald Reagan war mein Vorbild, sondern Willy Brandt mit seiner Ostpolitik.

„Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ war ein verlockendes Narrativ

Dieses Weltbild kam erst ins Wanken, als ich in den neunziger Jahren begann, nach Polen zu reisen, Polnisch zu lernen und mich mit dem Land zu beschäftigen, das die kommunistische Herrschaft früher als andere in Europa abgeschüttelt hatte. Neben Warschau war damals auch Stettin ein Zentrum europäischer Debatten geworden. Eine Konferenz jagte die andere in der Oderstadt, es war Stettins Vorbereitung auf den Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai 2004. Auch für mich war das ein magisches Datum. Endlich würden Deutsche, Polen und Tschechen zu einer Familie gehören.

Für viele meiner polnischen Freundinnen und Freunde war aber bereits ein anderes Datum magisch gewesen. 1999 war Polen der Nato beigetreten. Einmal fuhr ich vom Stettiner „Zentrum für europäische Integration“ durch den Villenort Pogodno und entdeckte eine Kaserne. Dort war das „Multinationale Korps Nordost“ der Nato stationiert. Polnische, dänische und deutsche Soldaten in einem Korps. Ich brauchte dieses Bild, um zu verstehen, was der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski sehr viel später sagte: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“

Mit einem der Stettiner Freunde, Andrzej Kotula, war ich 2002 zum ersten Mal in die Ukraine gereist. Wir waren in Czernowitz, Iwano-Frankiwsk und in Lemberg, wo wir im „Grand Hotel Lwiw“ wohnten, mit Blick auf den Freiheitsplatz mit der Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. „Die Ukraine braucht solche Symbole für ihre Nationenbildung“, erklärte mir Andrzej und nannte den westukrainischen Nationalismus, auf den ich ihn ansprach, als „Kinderkrankheit auf dem Weg zur Demokratie“.

Ich ließ mich von seiner Faszination anstecken. Wir schlenderten durch die Gassen der Altstadt, tauchten ein in die Vergangenheit Galiziens und sahen doch den Aufbruch nach Europa. Alles in dieser Stadt drängt Richtung Westen, dachte ich, als wir wieder auf der Rückreise nach Polen waren. Wir fuhren über den Grenzübergang Medyka, denselben Weg, den nun Hunderttausende nehmen, die vor Russlands Krieg in der Ukraine fliehen.

Am meisten aber blieben mir die Gespräche über das Jahr 1939 in Erinnerung. Die Wehrmacht hatte nach dem Überfall auf Polen am 1. September auch das damals polnische Lwów belagert. Als dann die Sowjets am 17. September in Ostpolen einmarschierten, hatten Nazideutschland und die Sowjetunion Lemberg in die Zange genommen. Ein Szenario, das exakt dem Drehbuch des Hitler-Stalin-Paktes entsprach.

Schließlich übergaben die Deutschen die Stadt den Sowjets. Nach den drei polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts war Lemberg zum Schauplatz einer vierten Teilung geworden. Und nun könnte der Einmarsch Russlands in die Ukrai­ne am 24. Februar 2022 eine weitere Teilung eines europäischen Landes zur Folge haben.

Nato-Beitritte aus Furcht

Inzwischen habe ich fast alle europäischen Länder bereist, die sich nach 1990/91 von der Sowjetunion losgesagt oder die kommunistische Herrschaft abgeschüttelt haben. Es ist ein breiter Streifen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, den Russland gerne als Puffer zwischen sich und der Nato gehabt hätte. Ein Streifen auch, den der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck kalt und zynisch wieder von der Landkarte radierte, wenn er von der „deutsch-russischen Nachbarschaft“ sprach, die es zu intensivieren gelte.

Diese „Nachbarschaft“ machte mehr als 150 Millionen Men­schen zu so etwas wie Spielmaterial einer russlandfreundlichen deutschen Außenpolitik, die sich auf die Ostpolitik Willy Brandts berief und auf russische „Sicherheitsinteressen“, hinter denen sich Putins Hegemonialstreben verbarg. In Polen ließ diese deutsch-russische „Nachbarschaft“ mit Projekten wie Nord Stream 1 und 2 schon sehr lange die Alarmglocken läuten.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Nato-Eintritt von Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien und der Slowakei, von Ungarn, Rumänien und Bulgarien 1999 und 2004 waren daher nicht Symbol einer aggressiven Nato-Strategie gegenüber Russland. Sie waren Ausdruck einer Furcht vor einer weiteren Teilung Europas.

Ich habe einige Zeit gebraucht, das zu begreifen. Und ich habe gelernt, dass es neben dem Narrativ der Ostpolitik mit seinem „Wandel durch Annäherung“ auch ein anderes Narrativ gibt. Nicht die Ostpolitik habe die Sowjetunion zu Fall gebracht. Vielmehr habe die Aufrüstung durch Ronald Reagan die Sowjetunion ökonomisch in die Knie gezwungen – und nebenbei mit ihrem „Gleichgewicht des Schreckens“ in Europa den Frieden gesichert.

Reagan statt Brandt. Man muss sich dieses Narrativ nicht zu eigen machen, aber es ist für einen Dialog auf Augenhöhe wichtig zu wissen, dass für die Menschen in Mittel- und Ost­europa die Nato der Garant ihrer Sicherheit ist.

Deutschland dagegen schien bis zum Februar 2022 noch immer in einer anderen Welt zu leben. Noch 2017 verglich Matthias Platzeck die Stationierung der Bundeswehr in Litauen indirekt mit Hitlers Feldzug im Osten und forderte eine „Verständigungspolitik“ mit Russland. Was er nicht sagte: Es waren russische Spezialeinheiten, die noch 1991 in Vilnius im Auftrag Gorbatschows 14 Menschen töteten, die für die Unabhängigkeit Litauens kämpften.

Inzwischen hat die Bundeswehr in Litauen die Führung der „Battlegroup Enhanced Forward Presence“ übernommen, die Bundesregierung will ihre Streitkräfte modernisieren. Es hat den Anschein, als seien alle Parteien außer der AfD und der Linken davon überzeugt, dass der „Sicherheitskorridor“, den Platzeck Russland zugestehen wollte, nicht noch einmal zu den „Bloodlands“ Europas werden darf.

Ob wir bereit sind, den Preis dafür zu zahlen? Das hängt auch davon ab, ob wir Mitteleuropa endlich als unteilbaren Teil Europas anerkennen und es als das sehen, was es auch für mich geworden ist: ein Angebot zur Osterweiterung unseres Denkens, zur Bereicherung der europäischen Debatte um historische Erfahrungen, vor denen wir lange die Augen verschlossen haben, als Symbol für die Vielfalt und Lebendigkeit Europas.

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat Mitteleuropa einmal als „Dasein dazwischen“ bezeichnet, als eine „Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung“.

Wie recht er hatte und wie bitter es ist. Denn inzwischen weiß Europa nicht nur, wo „Orte wie Archangelsk, Ural oder Sibirien“ liegen. Es weiß auch, was in Mariupol, Charkiw und Kiew geschehen ist.

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Jahrgang 1963, ist Redakteur für Stadtentwicklung der taz. Weitere Schwerpunkte sind Osteuropa und Brandenburg. Zuletzt erschien bei Bebra sein Buch "Morgenland Brandenburg. Zukunft zwischen Spree und Oder". Er koordiniert auch das Onlinedossier "Geschichte im Fluss" der Bundeszentrale für politische Bildung. Uwe Rada lebt in Berlin-Pankow und in Grunow im Schlaubetal.

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