Krieg im Nahen Osten: Das Personal wächst nach
Die Tötung der Anführer der Hamas und der Hisbollah beendet nicht den Krieg im Nahen Osten. Das schaffen nur veränderte politische Bedingungen.
D ie Stimmung in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft ist geradezu siegestrunken: Innerhalb weniger Wochen hat Israel mehrere Anführer seiner Erzfeinde Hamas und Hisbollah getötet, mit dem Tod des Hamas-Chefs Jahia Sinwar am 17. Oktober als letztem Höhepunkt. Israels Premier Benjamin Netanjahu verkündete nach der Bestätigung dessen Todes: „Er wurde eliminiert, als er vor Angst weglief.“
Nach der Tötung des Generalsekretärs der Hisbollah ein paar Wochen zuvor dankte der Kommandeur der israelischen Luftwaffe dem Piloten, der die Kampfjets anführte, die die Bomben mit 80 Tonnen Sprengstoff über dem südlichen Beirut abgeworfen hatten, über Funk mit den Worten: „Gut gemacht. Wir hoffen, dass wir diese terroristische Organisation enthauptet haben.“ Der Pilot antwortete: „Wir können jeden erwischen, überall.“ Als dann vor ein paar Tagen bestätigt wurde, dass auch Nasrallahs designierter Nachfolger, Haschem Safieddin, getötet wurde, konnte man endgültig den Eindruck bekommen, sowohl die Hamas als auch die Hisbollah stünden kurz vor ihrem Ende.
Doch die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass bei radikalen Bewegungen wie der Hamas oder der Hisbollah deren Führungen ersetzbar sind. Von Scheich Ahmad Jassin, dem Gründer der Hamas, der 2004 getötet wurde, über den Hamas-Chef Ismail Hanijeh, der seinem Schicksal vor wenigen Wochen in Teheran folgte und der von Sinwar sehr kurzlebig ersetzt worden war.
Es wird sich für die Spitze der Hamas sicherlich wieder jemand finden, dessen Familie wie Sinwar ursprünglich vom heutigen Israel nach Gaza vertrieben wurde, der dort wie Sinwar als Flüchtlingskind in einem Palästinenserlager aufgewachsen ist, der nichts als die israelische Besatzung kennt. Und der wie Sinwar jahrelang in israelischen Gefängnissen saß. Es ist ein Reservoir, das praktisch unerschöpflich ist.
Die nächste desillusionierte Generation wächst heran
Das Gleiche gilt für Nasrallah, dessen Karriere maßgeblich von der Invasion Israels in den Libanon 1982 geprägt wurde. Auch hier wird sich eine neue politische und militärische Führung herauskristallisieren, die diesmal nach der israelischen Invasion in den Libanon 2006 und dem folgenden Krieg sozialisiert wurde. Der Teufelskreis wird auch hier nicht abreißen. Unter den 1,4 Millionen Menschen, die im Moment innerhalb des Libanons aus ihren Häusern im Süden des Landes, der Bekaa-Ebene oder den Süden Beiruts vertrieben sind, darunter nach UN-Angaben über eine halbe Million Kinder, wächst die nächste desillusionierte und wütende Generation heran, die „Widerstand“ auf ihre Fahnen schreiben wird.
Das gilt noch mehr für den Gazastreifen. Unter den ausgehungerten Kindern, die in Nord-Gaza Schlange stehen, um etwas zu essen zu bekommen, wächst die gleiche Wut und Verzweiflung heran wie unter jenen, die unter der im Gaza-Krieg neu erfundenen Bezeichnung „WCNSF“ –„Wounded Child, No Surviving Family“ zusammengefasst werden, also verletzten, überlebenden Kindern, die ihre gesamte Familie verloren haben. Auch darunter werden welche sein, die irgendwann einer palästinensischen Organisation vorstehen, die in ihrer radikalen Militanz vielleicht sogar die Hamas in den Schatten stellen wird.
Medien lieben es, Konflikte anhand von Personen zu veranschaulichen. Das dient auch dazu, dem als unzivilisiert wahrgenommenen Gegner ein Gesicht zu geben, das dann zur personifizierten Dämonisierung des Gegners dient. Wenn dieses Gesicht dann „eliminiert“ ist, wird das als Meilenstein gefeiert – und überbewertet. Sie vergessen dabei, wie die Hamas oder die Hisbollah, entstanden sind und immer neue Anhänger gewinnen: unter den Bedingungen einer israelischen Besatzung oder dem Wegsperren von zwei Millionen Menschen im Gazastreifen oder einer israelischen Invasion im Libanon.
Sinwars Tötung könnte für Israel nach hinten losgehen
Die Hamas ist als Gegenkonstrukt zur israelischen Besatzung im Gazastreifen und im Westjordanland entstanden, die Hisbollah in der 18-jährigen Besatzung des Südlibanon. Beides formte maßgeblich die islamistisch legitimierte „Widerstandsideologie“. Daran ändert sich auch nichts, wenn man darauf hinweist, dass sowohl die Hisbollah als auch die Hamas vom Iran unterstützt werden. Das Regime im Iran setzt hier auf Pferde, die ohnehin schon in den palästinensischen Gebieten oder im Libanon ins Rennen gegangen sind, weil die Bedingungen für ihre Entstehung und ihr Wachsen reif waren. Teheran konnte es mit deren Hilfe schaffen, Einfluss auf den Libanon und die palästinensischen Gebiete zu gewinnen und politische und militärische Satelliten in der arabischen Welt aufzubauen.
Nicht die Tötung ihrer Führung wird das Ende dieser Organisationen herbeiführen, sondern eine Veränderung der Bedingungen: Das kann am Ende nur eine politische Lösung der Palästinenserfrage sein, in der die Palästinenser ihre Rechte bekommen. Solange die Bedingungen bleiben, wie sie sind, wird es immer neue Sinwars und Nasrallahs geben. Im Falle der Hamas könnte Sinwars Tötung für Israel sogar nach hinten losgehen.
Alle kennen das von der israelischen Armee veröffentlichte Video, auf dem man sieht, wie eine israelische Drohne die letzten Atemzüge Sinwars filmt. Schwer verletzt sitzt er nach einem Feuergefecht mit einer israelischen Patrouille in einer Häuserruine in einem Sessel und wirft mit letzter Kraft einen Gegenstand gegen eine Drohne, bevor er stirbt. Israel wollte damit öffentlich zur Schau stellen, wie Sinwar, der Architekt des blutigen 7. Oktober, einsam und verlassen sein Ende findet.
Doch in großen Teilen der arabischen Welt und nicht nur bei Hamas-Anhängern wurde dieses Video völlig anders wahrgenommen. Sinwar wird dort als jemand gesehen, der mit der Waffe in der Hand bis zum letzten Atemzug gegen die israelische Besatzung gekämpft hat. Für viele war eine neue arabische Heldenikone geboren. Ein besseres Rekrutierungsvideo hätte sich die Hamas kaum wünschen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf