Karl Lauterbach über Covid-19: „Die Pandemie ist schrecklich“

Kaum jemand mahnt gerade zu mehr Vorsicht als der SPD-Gesundheitsexperte. Ein Gespräch über Vertrauen und Kneipenbesuche im Jahr 2021

Sonnenhungrige halten Abstand auf einer Wiese in einem Berliner Park

Da dürfte auch Karl Lauterbach zufrieden sein: Abstandswahrung im Berliner Stadtpark Schöneberg Foto: Kay Nietfeld/dpa

taz am wochenende: Herr Lauterbach, in der Coronakrise gelten Sie als ewiger Mahner, als Befürworter eines strengen Lockdowns, und auch, naja, als Spaßbremse. Wie lebt es sich damit?

Karl Lauterbach: Ich glaube nicht, dass ich als Spaßbremse rüberkomme. Sondern ich versuche, als Epidemiologe ehrlich und klar die Position zu vertreten, die ich für richtig halte. Ich bekomme hierfür auch viel Zustimmung. Man darf nicht unterschätzen, wie viele ältere Leute oder Leute mit Vorerkrankungen Angst vor dieser Krankheit haben. Sie sind dankbar, dass jemand ihre Sorgen ernst nimmt.

Die Infektionszahlen steigen nicht mehr exponentiell, auf deutschen Intensivstationen sind Tausende Betten leer, das Wetter ist traumhaft, vielerorts öffnen Shoppingmalls wieder...

... stimmt.

Karl Lauterbach

57, ist Gesundheitswissenschaftler, Politiker und Mediziner. Seinen Abschluss in Epidemioligie machte an der US-Elite-Universität Harvard. Seit 2005 sitzt er für die SPD im Bundestag.

Ist die Pandemie gar nicht so schlimm, wie Sie uns glauben machen wollten?

Man sieht im Sonnenschein nicht, wie die Erkrankten leiden. Die Pandemie ist schrecklich. Gute Freunde von mir arbeiten als Ärzte in New York, sie erleben die schlimmsten Tage ihrer Laufbahn. Covid-19 ist eine heimtückische, widerliche Erkrankung, die die Lunge, die Nieren, das Gefäßsystem und das Herz befällt und wahrscheinlich auch bei den schweren Verläufen wegen der langen Beatmung kognitive Einschränkungen hinterlässt, bis zur späteren Demenz. Wenn die Zahl der Infizierten wieder stark zunähme in Deutschland, wäre auch unser System überfordert.

Warum sollte ein Rückfall drohen? Die Menschen haben sich bisher sehr diszipliniert verhalten. Trauen Sie der eigenen Bevölkerung nicht?

Was heißt trauen? Die Leute verhalten sich schon jetzt anders als vor zwei Wochen. Der Respekt und die Angst vor der Krankheit gehen zurück. Wenn ich Unrecht habe, freue ich mich.

Der Virologe Christian Drosten warnt vor einer zweiten Welle. Können Sie das Szenario skizzieren, das uns droht?

Die zweite Welle sähe so aus: Mit den jetzigen Maßnahmen könnten wir das erneute exponentielle Wachstum nicht stoppen. Die vielen neuen Infektionsherde ließen sich nicht mehr nachverfolgen, weil hierfür das Personal fehlt und es zu viele Quellen sind. Wir müssten dann bereits erreichte Lockerungen wieder zurücknehmen. Gleichzeitig kämen wir in eine Situation, dass die Intensivbetten ausgelastet wären.

Auf welchen Daten basieren Ihre Annahmen?

Egal, welches Modell zur Berechnung des Verlaufs Sie heranziehen, ob nun das von Neil Ferguson vom Imperial College London, das von Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Institut oder das von Marc Lipsitch aus Harvard: Klar ist, wir bewegen uns auf einem schmalen Grat. Sobald eine bestimmte Zahl an neuen Infektionen überschritten wird, steigen die Zahlen binnen kürzester Zeit in unerträgliche Dimensionen.

Alle bisherigen Anstrengungen wären umsonst gewesen?

Komplett umsonst. Wir hätten viel Geld ausgegeben, wären aber exakt wieder da, wo wir schon einmal waren. Die vielen Entbehrungen der letzten Wochen, die Opfer, die wir gebracht haben, sie alle hätten zu gar nichts geführt. Daher hätte ich den jetzigen Lockdown auch noch nicht gelockert, sondern ich hätte ihn für ein paar weitere Wochen aufrecht erhalten.

Verstehen wir Sie richtig: Sie sagen, dass es klüger gewesen wäre, die strengen Kontaktbeschränkungen, die den Menschen viel soziales, wirtschaftliches und psychisches Leid gebracht haben, um weitere Wochen auszudehnen?

Es hätte deutliche Vorteile gehabt. Das Gros der Bevölkerung hätte über einen längeren Zeitraum mehr Freiheiten gehabt. Mit weniger Neuinfektionen hätte die Möglichkeit bestanden, die Ansteckungen nachzuvollziehen und die Herde auszutreten. Medizinisch, aber auch ökonomisch wäre dies die bessere Strategie gewesen. Das alles ist jetzt leider kaum mehr möglich. Bei 1.000 neuen Fällen täglich kann man nicht alle nachvollziehen. Deswegen sitzen wir jetzt wie das Kaninchen vor der Schlange. Und eine Rücknahme der Lockerungen ist politisch schwer verkaufbar.

Das heißt: Merkel und die Ministerpräsidenten haben politisch versagt?

Nein, Ich will hier keine Schuldzuweisungen aussprechen. Es war eine Entscheidung, die man im Konsens getroffen hat.

Wir haben die Chance verpasst, das Virus dauerhaft zu unterdrücken, weil die Möbelbranche in NRW gemeckert hat?

Ich hatte schon den Eindruck, dass ein paar Lobbyisten und einzelne Politiker da wesentlich mehr Druck gemacht haben als die Bevölkerung, die vermutlich bereit gewesen wäre, noch ein paar Wochen länger durchzuhalten. Deutschland hätte als einziges europäisches Land das Südkorea Europas werden können. Diese Chance ist erstmal vertan.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Als wichtige Messlatte gilt jetzt der Reproduktionswert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Warum ist die Zahl wichtig?

Bei einem R-Wert über 1 ist immer Alarmstufe Rot. Wir sind dann im exponentiellen Wachstum. Ist er dagegen unter 1, werden auch andere Faktoren wichtig, die Zahl der Neuinfektionen etwa. Ideal wären ein R-Wert von 0,5 und eine niedrige dreistellige Zahl täglicher Neuinfektionen, kombiniert mit einer App zum contact tracing, einer Maskenpflicht sowie großzügigen Tests um jeden einzelnen Verdachtsfall herum. Wir hätten dann nicht alle unsere Freiheiten zurück, aber doch mehr Spielraum als jetzt.

Auch Virologen sagen, dass die Versorgungskapazität in den Krankenhäusern die eigentlich entscheidende Maßzahl sein muss, an der sich Lockerungen orientieren sollten. Ist das falsch?

Das Problem ist die Zahl der schweren Fälle. Wenn ich diese nicht beatmen kann, sterben mir die Patienten sofort weg. Aber selbst wer beatmet wird, ist noch lange nicht gerettet. Trotz Beatmung sterben Studien aus Großbritannien zufolge 60 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. Mit einer reinen Aufstockung der Kapazitäten ist das Problem also mitnichten gelöst.

Man hat vielerorts den Eindruck, die Menschen hätten nicht begriffen, dass diese Pandemie keine Sache von ein paar Wochen ist. Welche Fehler hat die Regierung in ihrer Krisenkommunikation gemacht?

Es ist wichtig, dass wir den Ernst der Lage so beschreiben, wie er ist. Wir müssen ehrlich und zuverlässig sein, ohne zu dramatisieren. Mein Eindruck ist, dass der kritische Teil der Bevölkerung genau diese Art der Kommunikation annimmt.

Wie lange wird der Ausnahmezustand dauern?

Ich rechne damit, dass uns das Virus noch das ganze nächste Jahr maßgeblich beeinflussen wird. Ich kenne keinen ernst zu nehmenden Virologen, der sagt, dass wir über einen zuverlässigen Impfstoff noch in diesem Jahr verfügen werden. Ich bin geneigt, den Epidemiologen aus Harvard zu folgen, die prognostizieren, dass das Virus noch bis 2022 unser Leben bestimmen wird.

Wie wird dieses Leben aussehen?

Das Maskentragen wird unseren Alltag bestimmen, in Zusammenspiel mit Abstandsgeboten und Handhygiene. Wir werden distanzierter miteinander umgehen.

Was heißt das?

Schwarz sehe ich weiterhin für Großveranstaltungen, aber auch gesellige Kneipenrunden und Kontaktsport; Dinge, an denen auch ich sehr hänge, das wird alles nicht mehr stattfinden. Eine neue Denkart wird Einzug in unsere Köpfe halten: Wie viel schuldet die eine Generation der anderen? Ältere und Vorerkrankte werden sich bedroht fühlen. Und wir werden uns mit den hohen Kosten der Pandemiebewältigung auseinanderzusetzen haben. Die Krise wird die Gesellschaft polarisieren.

Hat die Politik selbst verstanden, dass der Ausnahmezustand möglicherweise noch zwei weitere Jahre dauern wird? Armin Laschet, der NRW-Ministerpräsident, will über weitere Lockerungen im Mai sprechen.

Mein Eindruck ist, dass einige Politiker das sehr gut verstehen – und andere weniger gut. Aber die letzte Gruppe wird es durch das Virus lernen.

Sie sind der bekannteste Gesundheitsexperte der SPD. Warum hört Ihre Partei eigentlich nicht auf Sie?

Ich glaube nicht, dass die Partei nicht auf mich hört. Hinter den Kulissen bin ich einflussreich.

Gesundheit ist kein absolutes Gut, sondern bloß eines unter vielen. Auch Verfassungsrichter sagen, dass Grundrechte nicht unter dem lapidaren Hinweis „Aber für die Gesundheit ist es notwendig“ ohne Weiteres eingeschränkt werden dürfen. Sind die Richter ignorant?

Nein. Sie setzen sich intensiv mit der Gefährlichkeit des Virus auseinander, sie nehmen die Daten ernst. Mein Eindruck ist: Die Realität der Pandemie frisst sich durch die Denkweise. Auf allen Seiten wird wahrgenommen, dass es um Grundrechtseinschränkungen geht, die wir noch nie hatten. Und die wir hoffentlich nie wieder haben werden.

Hat diese Krise auch etwas Gutes?

Viele Menschen werden begreifen, wie bedingt aller Wohlstand und alle Gesundheit ist. Wer sich und sein Geschäftsmodell für unverwundbar hielt, lernt nun eine gewisse Bescheidenheit. Die Erfahrung, wie viel in kürzester Zeit verloren gehen kann, wird manche und manchen menschlicher machen.

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