Israel und die Palästinenser: Vergessene Apartheid

In Israel wird der Begriff Apartheid kontrovers diskutiert. Annexionspläne der Regierung befeuern den Streit. Über die Geschichte einer Debatte.

Masse an Männern mit Mundschutzmasken an einem Checkpoint

Ein System von Passier­scheinen und Checkpoints: Sicherheitskontrolle zu einer jüdischen Siedlung Foto: afp

Der Koalitionsvertrag der israelischen Regierung ermächtigt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Teile des besetzten Westjordanlands dem israelischen Staat einzuverleiben. Im Land geht man davon aus, dass es sich dabei um bis zu ein Drittel des Gebiets handeln wird: neben den jüdischen Siedlungen auch um das Jordantal, dessen Einverleibung Netanjahu bereits während des Wahlkampfs 2019 angekündigt hat. Obwohl wegen der Coronakrise derzeit unklar ist, wann der Plan umgesetzt wird, läuft die Opposition Sturm. Ein wiederholt angeführter Kritikpunkt ist, dass mit einer Annexion der Schritt hin zu einem Apartheidstaat vollzogen würde.

In Israel wird der Terminus Apartheid als Kampfbegriff heute vor allem im linken und arabischen Sektor ins Feld geführt. So stammten die beiden bislang beispiellosen Misstrauensanträge im Parlament, in denen im Juni vor einem Apartheidsystem gewarnt wurde, von der kleinen linken Meretz-Partei und der arabisch dominierten Vereinten Liste.

Deren Vorsitzender, der israelisch-arabische Politiker Ayman Odeh, berief sich in der Knessetdebatte auf den kurz zuvor verstorbenen israelischen Faschismusforscher Zeev Sternhell. Dieser hatte 2015 in der linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz geschrieben: „Die Besatzung ist der Grund für den Krieg mit den Palästinensern. Solange die jüdische Gesellschaft die Gleichberechtigung des anderen Volkes, das im Land lebt, nicht anerkennt, wird sie immer tiefer in der kolonialen Realität und der offenen Apartheid versinken.“

Dass beide Misstrauensanträge scheiterten, ist nicht allein den Mehrheitsverhältnissen in der Knesset geschuldet. Es liegt auch daran, dass die Befürworter der Besatzung den Warnern vor Apartheid das Totschlagargument entgegenhalten, die israelische Kontrolle über „Judäa und Samaria“, wie das Westjordanland genannt wird, sei nie vergleichbar gewesen mit dem auf Rassendiskriminierung basierenden einstigen System Südafrikas.

Segregation von der Mehrheitsgesellschaft

Die Auseinandersetzung mit Apartheidanalogien hat im israelischen Diskurs eine längere, heute teils vergessene Geschichte und war stets von Ambivalenzen geprägt. Zwar hatte sich Israel früh der internationalen Kritik am südafrikanischen Regime angeschlossen, aber die Palästinenser, die im arabisch-israelischen Krieg von 1948 nicht vertrieben worden oder geflohen waren, lebten in Israel noch knapp zwei Jahrzehnte später unter Bedingungen, die teilweise den südafrikanischen ähnelten.

Die meisten der auf israelischem Gebiet verbliebenen Palästinenser waren einer repressiven Militärverwaltung unterstellt, die bis 1966 andauerte. Ihre Entrechtung, vor allem auch ihre weitgehende Segregation von der jüdischen Mehrheitsgesellschaft, wies Parallelen zu den Zuständen in Südafrika auf. Deshalb wurde gegen Israel bereits damals der Apartheidvorwurf erhoben – so etwa 1961 von dem palästinensischen Politiker Ahmad al-Schukeiri, dem späteren ersten Vorsitzenden der 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).

Israel wies die Kritik, die bald auch vonseiten arabischer Staaten geäußert wurde, mit dem Argument vehement zurück, dass die Kontrolle über die Palästinenser nicht rassistisch motiviert sei, sondern der Sicherheit des israelischen Staates diene. Man griff – nicht unähnlich zu heute – bei der Abwehr gelegentlich auch zum Antisemitismusvorwurf und betonte, dass die Juden im Laufe der Geschichte selbst Opfer von Apartheid gewesen seien. Mit solchen Argumenten wurde auch die Kritik aus Reihen der israelischen – gemischt jüdisch-arabischen – kommunistischen Partei übertönt, die die Methoden der Militärverwaltung als apartheidähnlich verurteilte.

in Teilnehmer einer Demonstration gegen Israels Annexionsplan hält ein Plakat mit der Aufschrift "The annexion of the West Bank is a racist crime"

Demonstrant in Gaza Ende Juni Foto: Yousef Masoud/dpa

Die offizielle Abschaffung der Militärverwaltung 1966 brachte den Palästinensern kaum Erleichterung, wurden sie fortan von Polizei und Inlandsgeheimdienst streng kontrolliert, auch nachdem ihnen 1968 gestattet wurde, sich im gesamten Land frei zu bewegen. Zwar hatten auch die Palästinenser im Westjordanland und Gazastreifen, die im Sechstagekrieg 1967 unter israelische Militärkontrolle gerieten, unbeschränkte Bewegungsfreiheit – jedenfalls bis 1991. Seither schränkte ein System von Passierscheinen, Checkpoints und Verboten zur Nutzung von Israelis vorbehaltenen Straßen ihre Mobilität sukzessive ein. Aber diese Palästinensergebiete standen von Anfang an unter einer Militärbesatzung, deren Rahmenbedingungen sich im Westjordanland bis heute kaum geändert haben.

Die 1981 eingerichtete israelische „Zivilverwaltung“ ist nach wie vor der Armee unterstellt. Sie hat die Rechte der dort lebenden Palästinenser, die auch nach 1967 weiter jordanischem beziehungsweise – im Gaza­strei­fen – ägyptischem Recht unterstanden, immer weiter beschnitten, während für zugezogene jüdische Siedler die weit liberaleren israelischen Gesetze gelten. Und wie bis 1966 im israelischen Kerngebiet unterliegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten im Westjordanland anders als die Siedler bis heute der Militärgerichtsbarkeit.

Anti-Apartheidskonvention der UNO

Diese Verhältnisse konnten noch konkreter mit Apartheidvorwürfen angeprangert werden, nachdem die Vereinten Nationen 1973 die Internationale Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid verabschiedet hatten, die 1976 in Kraft trat, der aber weder Israel noch übrigens die Bundesrepublik Deutschland beigetreten sind. Auch wenn die Konvention auf Südafrika Bezug nahm, beschrieb sie unabhängig davon Apartheid als eine Reihe völkerrechtswidriger Maßnahmen, die darauf abzielten, die Herrschaft einer „rassischen Gruppe“ über eine andere aufrechtzuerhalten und sie systematisch zu unterdrücken.

Etliche dieser Maßnahmen, die in Artikel 2 aufgezählt werden, trafen und treffen auf die besetzten Gebiete zu. So können die in der Konvention angeprangerten „willkürlichen“ Verhaftungen ohne Weiteres erfolgen, weil die Besatzungssoldaten Palästinenser ohne Haftbefehl festnehmen dürfen. Auch gestattet das duale Rechtssystem mit dazugekommenen Militärverordnungen die ebenfalls als Apartheidverbrechen eingestufte „Enteignung von Besitz“, von der Palästinenser vor allem in Form von Bodenkonfiszierung betroffen sind. Hinzu kommt die von der UN-Konvention verurteilte Verweigerung des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie – auch dies trifft im weitesten Sinne auf das israelische Besatzungsregime zu – die „vorsätzliche Schaffung von Bedingungen, welche die volle Entwicklung“ der unterdrückten Gruppe verhindern.

Israels Ministerpräsident Menachem Begin im Jahr 1977

„Wir wollten niemals wie Rhodesien werden“

Nach dem Inkrafttreten der Konvention wurden in Israel Warnungen vor einem „jüdischen Apartheidstaat“ nicht nur im äußersten linken Lager laut. Als Ministerpräsident und Likud-Chef Menachem Begin im Rahmen der Friedensverhandlungen mit Ägypten 1977 seinen „Autonomieplan“ für die Palästinenser der Knesset zur Abstimmung vorlegte, begründete er ihn auch mit den Worten: „Wir wollten niemals wie Rhodesien werden.“ Allerdings verweigerte Begins Plan den Palästinensern das Recht auf nationale Selbstbestimmung, weshalb er von arabischer Seite abgelehnt wurde.

Begins Äußerung entsprach jedoch keineswegs der damaligen Haltung der israelischen Rechten. Nur wenige Jahre später konstatierte der israelische Journalist Yoram Peri in der linksorientierten Zeitung Davar, dass Ultranationalisten neuerdings offen zur Einführung eines Apartheidsystems in den besetzten Gebieten aufriefen – was er sich damit erklärte, dass auf die Erinnerung an die Schoah zurückzuführende Hemmungen gefallen seien.

Netanjahu dreht den Spieß um

Unverblümt rassistische Apartheidparolen waren in Israel jedoch nur vorübergehend zu hören, begann man doch schon bald, anstelle von Apartheid (Afrikaans: Getrenntheit) den weniger belasteten hebräischen Begriff Hafrada (Trennung) zu verwenden. Für die Apologeten der Besatzung ist eine ethnische und räumliche – nicht aber staatsterritoriale – „Trennung“ der Garant schlechthin für die Bewahrung ihrer eigenen Sicherheit als Okkupanten.

Wenn sie auf Apartheidvorwürfe der Opposition überhaupt eingehen, drehen sie den Spieß allzu gern um: „Die wahre Apartheid“, sagte Netanjahu schon 2016 in einer Sitzung eines Knessetausschusses, „ist die ethnische Säuberung, die die Palästinenser an den Israelis begehen wollen.“ Ähnlich zog David Amsalem, Likud-Minister für Digitales und für die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Knesset, im Juni gegen die erwähnten Misstrauensanträge zu Felde: Apartheid betreibe die Palästinensische Autonomiebehörde selbst, dürften doch Israelis ihre Gebiete nicht frei betreten.

Diese Strategie der Verleugnung versucht die im Mai von der früheren Meretz-Vorsitzenden Zehava Gal-On gegründete Organisation Zulat (Mitmensch) jetzt zu entlarven. In einem auch auf Englisch im Juni veröffentlichten Bericht mit dem Titel „Whitewashing Apartheid“ wird nicht nur an die auch in Israel heute wenig bekannte Anti-Apartheids-Konvention der UN erinnert und aufgezeigt, dass etliche der darin verurteilten Verbrechen mit den Besatzungspraktiken gleichzusetzen sind.

Zulat macht auch auf die rhetorischen Verschleierungstaktiken der Regierung und ihr nahestehender Medien aufmerksam. Deren bevorzugter Euphemismus, der sich auch im Regierungsprogramm findet, lautet „Implementierung der Souveränität“, womit die Anwendung israelischen Rechts auf die zur Einverleibung vorgesehenen Palästinensergebiete gemeint ist. Sprich: Annexion.

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