Holodomor-Antrag im Bundestag: Verständlich, aber anmaßend

Der Bundestag will die Hungerkatastrophe in der Ukraine unter Stalin als Völkermord einstufen. Damit wird Geschichte für aktuelle Ziele zugeschnitten.

Hände halten eine Kerze und Getreideähren

Gedenken an die Hungerkatastrophe der Jahre 1932-33, den Holodomor, am 26. November in Kiew Foto: Valentyn Ogirenko/reuters

Vor ein paar Wochen haben russische Besatzer in Mariupol das Denkmal für die Opfer des Holodomor zerstört. Dieser barbarische Akt verdeutlicht das Ziel dieses Eroberungskriegs – die Ukraine soll unterworfen, ihr nationales Bewusstsein, in dem die Erinnerung an den Holomodor eine wichtige Rolle spielt, unterdrückt werden.

SPD, Union, Grüne und FDP wollen im Bundestag nun einen Antrag verabschieden, der zum großen Teil einleuchtet. Man will Kyjiw weiter im Kampf gegen Putins Imperialismus unterstützen und die schütteren Kenntnisse über den Holodomor, die Hungerkatastrophe in den frühen 30er Jahren in der Ukraine, verbreiten.

So weit, so gut. Aber Ampel und Union gehen einen Schritt weiter und behaupten, es liege nahe, den Holodomor als Völkermord zu bezeichnen. Das ist zweifelhaft. Viele Historiker halten Stalins Terror Anfang der 30er Jahre für keine gezielt anti­ukrainische Vernichtungsaktion. Der Krieg gegen „Kulaken und Volksfeinde“, der Millionen das Leben kostete, traf damals die Landbevölkerung auch in anderen Teilen der UdSSR, nicht nur in der Ukraine. Es ist in der Fachwelt umstritten, ob Stalins Antipathie gegen die Ukraine wirklich ein wesentlicher Antrieb des Mordens war.

Der Bundestag ist nun aber keine Historikerkommission. Es hat etwas Anmaßendes, einer komplexen historischen Debatte nun den Weg leuchten zu wollen. Das unterscheidet den Holodomor-Antrag von der Armenienresolution vor ein paar Jahren. Dass die Morde an den Arme­niern 1915 geplant und gezielt waren und somit nach der Defintion von 1948 als Genozid gelten, ist ein historischer Fakt. Das ist beim Holodomor anders – und ein zentraler Unterschied.

Warum nicht „Massenmord“?

Warum sprechen Unionsparteien und Ampelkoalition nicht von einem Massenmord? Dagegen wäre sinnvoller Einspruch nicht möglich. Es muss aber offenbar das Triggerwort Völkermord sein, weil nur das für Aufmerksamkeit sorgt und größtmöglichen Abscheu zum Ausdruck bringt. Damit drängt sich der Verdacht auf, dass hier Geschichte für gegenwärtige Ziele zugeschnitten wird. Das geschieht für einen guten Zweck: die Unterstützung der angegriffenen Ukraine. Aber es hat einen Preis: eine geschichtspolitische Instrumentalisierung.

Fraglich ist auch, ob Völkermord als Schlüsselbegriff für politische Verbrechen hier tauglich ist. Es ist weit einleuchtender, Gewalt des IS gegen die Jesiden, der 10.000 Menschen zum Opfer fielen, als Völkermord zu bezeichnen als Stalins Terror Anfang der 1930er Jahre, der bis zu sieben Millionen in der Ukraine, Kasachstan und in Russland das Leben kostete. Der Kampf um das Etikett Völkermord mag kurzfristige Anerkennungsgewinne bescheren. Ob er der historischen Aufklärung nutzt, ist zweifelhaft.

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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