Zemfira Dlovani zu Jesiden-Verfolgung: „Der Genozid ist nicht zu Ende“
Vor sieben Jahren begann der Islamische Staat, Jesid:innen im Irak zu töten und zu versklaven. Die Vorsitzende des Zentralrats, Zemfira Dlovani, fordert Gerechtigkeit.
taz: Frau Dlovani, am 3. August 2014 begann vor den Augen der Weltöffentlichkeit der Genozid an den Jesid:innen im Sindschar-Gebirge durch den selbst erklärten „Islamischen Staat“. Wie haben Sie davon erfahren?
Zemfira Dlovani: Ich saß in Deutschland vor dem Fernseher und war wie erstarrt. Ich konnte nicht fassen, dass so etwas im 21. Jahrhundert möglich ist. Als Frau haben mich die Berichte über vergewaltigte und versklavte Jesidinnen noch einmal besonders getroffen. Mir wäre dort genau dasselbe passiert wie meinen Glaubensschwestern.
Den meisten Deutschen war das Jesidentum bis 2014 kein Begriff, den Zentralrat gibt es in seiner jetzigen Form erst seit 2017. Warum?
In Deutschland gibt es viele Vereine, die seit 20, 30 Jahren sehr aktiv sind. Etwa in Oldenburg, Emmerich, Gießen oder Hannover. Für mich persönlich – und auch für viele andere Jesiden in Deutschland – war der Angriff des IS im Irak ein Punkt, an dem wir gemerkt haben, dass wir uns organisieren und eine Lobby schaffen müssen.
ist 41 Jahre alt und seit Juni 2021 Vorsitzende des Zentralrats der Êzîden in Deutschland. Sie kam im Alter von 14 Jahren aus Armenien nach Deutschland, arbeitet als Rechtsanwältin und betreibt eine eigene Kanzlei in Koblenz. Dort ist sie im Kreisverband der CDU aktiv.
Denn was uns 2014 passiert ist, darf sich nicht wiederholen. Wir haben verstanden, dass wir eine Organisation brauchen, die für alle Jesiden in Deutschland sprechen kann und sprechen darf. Vor allem aber hat die Bundesregierung nach einem Ansprechpartner gefragt.
Der aktuelle Prozess in Frankfurt gegen den Iraker Taha Al-J. ist das erste Strafverfahren weltweit, bei dem einer der Anklagepunkte Genozid an den Jesid:innen lautet. Wie bewerten Sie die bisherige rechtliche Aufarbeitung der IS-Gräueltaten?
Wir Jesiden hoffen sehr, dass es noch weitere Prozesse geben wird. Wenn man sich die Zahlen der IS-Rückkehrer in Deutschland anschaut – etwa 150 Personen – wissen wir, dass noch sehr viel zu tun ist. Wir vertrauen in unseren Rechtsstaat und darauf, dass die Behörden, die Staatsanwaltschaft und die Bundesgeneralanwaltschaft alles daransetzen, diejenigen, die man anklagen kann, tatsächlich auch anzuklagen.
Im Juli hat das Oberlandesgericht in Hamburg Omaima A. wegen Beihilfe zur Sklavenhaltung von zwei jesidischen Frauen zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Finden Sie ein solches Strafmaß zu milde?
Mir als Juristin ist bekannt, dass es teilweise Probleme mit der Beweisbarkeit gibt. Hier könnten auch die Informationen der Frauen nützlich sein, die mittels Sonderkontingenten nach Deutschland gebracht wurden und heute hier leben. Sie müssen unbedingt ihre Aussagen machen.
Viele von ihnen fühlen sich hier sicher. Es gibt aber auch einige Frauen, die Angst haben, solange Rückkehrer noch frei herumlaufen. Es ist aber nicht nur im Interesse der Jesiden, dass diese Menschen unter die Lupe genommen werden, sondern auch im Interesse der Mehrheitsgesellschaft.
Inwiefern?
Wir wollen alle nicht, dass Menschen mit einer radikalen Einstellung herkommen und hier wüten. Zudem ist die Strafverfolgung ein wichtiges Signal an jene, die vielleicht irgendwann auf die Idee kommen, sich einer Gruppe wie dem IS anzuschließen. Es ist wichtig, dass sie wissen: Man kann sich nicht einfach den Bart abrasieren oder den Nikab ablegen und hier ein ganz normales Leben weiterführen.
Gerade Rückkehrerinnen werden in der Presse als „IS-Bräute“ verharmlost und der „jesidischen Sklavin“ gegenübergestellt. Das ist schon rein sprachlich sehr problematisch.
Wer wird an der diesjährigen Gedenkveranstaltung zu 2014 in Düsseldorf teilnehmen?
Wir kommen an diesem Tag mit vielen Vertretern von Politik, Religion und Hilfsorganisationen zusammen. Armin Laschet ist Schirmherr der Veranstaltung. Er wird leider nicht dabei sein. Serap Güler, die Integrationsministerin von Nordrhein-Westfalen, wird ihn vertreten. Eine große Besonderheit ist, dass uns der neue Baba Sheikh besucht. Vergangenes Jahr war das religiöse Oberhaupt der Jesiden gestorben. Die erste Auslandsreise seines Nachfolgers wird ihn also nach Düsseldorf führen.
Worauf werden Sie als neu gewählte Vorsitzende den Fokus legen?
Im Fokus steht das Erinnern – Aber ich werde in meiner Rede auch betonen, dass der Genozid noch nicht vorbei ist. So lange noch immer Tausende Menschen in den Flüchtlingslagern Nordiraks festsitzen, ist dieser Genozid nicht zu Ende. Der Genozid ist erst dann zu Ende, wenn diese Menschen in Sicherheit sind und zurück in ihre Heimat – das Sindschar-Gebirge – dürfen. Damit einher geht die Forderung nach Wiederaufbau. Nicht zu vergessen ist auch die Anerkennung des Genozids, was von uns auch seit Jahren gefordert wird.
Warum ist der Wiederaufbau so schwer und welche Forderungen haben Sie?
In Sindschar haben die Milizen das Sagen. Auch kümmert sich weder die irakische Zentralregierung noch die kurdische Autonomiebehörde darum. Die Jesiden wollen zurück, aber nur, wenn sie dort in Sicherheit leben können. Mit Bleibeperspektiven werden sie sich nicht auf den Weg nach Europa machen. Insbesondere nach Deutschland, wo bereits mehr als 200.000 Jesiden leben.
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