Grüner Kurs zu Atomkraftwerken: Gestern sinnlos, heute notwendig
Ob bei Waffenlieferungen oder LNG-Gas – die Grünen konnten Umentscheidungen bisher oft gut begründen. Schwierig wird es bei der AKW-Verlängerung.
J etzt ist es ausgesprochen: Die Atomkraftwerke werden über das Jahresende hinaus weiterlaufen und die Grünen übernehmen die Verantwortung. „Stand heute halte ich das für notwendig“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Dienstag und verkündete damit eine Vorentscheidung. Ein weiterer Schritt, der den Grünen zwar schwerfällt, ihnen am Ende aber nicht schaden wird, sondern sogar als Pragmatismus positiv angerechnet? Mal abwarten.
Etwas ist diesmal anders als in den vorherigen Fällen: Zwar musste man nicht jede der bitteren Pillen der letzten Monate für richtig halten. Schlüssig begründet waren sie aber alle. Waffenlieferungen an die Ukraine zum Beispiel waren ein Novum, aber deswegen kein Bruch mit der bisherigen Parteilinie, sondern der logische nächste Schritt. Die Grünen hatten sich schon vor dem 24. Februar über Jahrzehnte vom Pazifismus wegbewegt und Kriterien erarbeitet, unter denen sie den Einsatz militärischer Gewalt für nötig halten. Mit der russischen Invasion waren diese Bedingungen erfüllt. Was sonst sollte eine prowestliche und antiautokratische Partei jetzt machen, als die Ukraine zu unterstützen?
Ob Bundeswehr-Sondervermögen, LNG-Gas oder Kohlereserve: Auch in anderen Fällen konnten die Grünen schwierige Entscheidungen mit veränderten Umständen und Sachzwängen stringent erklären. Die AKWs aber? Bevor die Partei im Sommer schrittweise einlenkte, redete sie monatelang von einer Scheindebatte. Auch in der Krise mache die Atomkraft überhaupt keinen Sinn. Noch vor drei Wochen schrieb der Bundesvorstand in einem Antrag für den anstehenden Parteitag, dass es die Atomreserve nur für den „äußersten Notfall“ brauche, „so unwahrscheinlich er auch sein mag“.
Dass die Grünen die AKW-Laufzeiten jetzt doch ins neue Jahr verlängern wollen, lässt sich nach dieser Vorgeschichte nicht mehr allein damit erklären, dass sich die Welt eben schnell gedreht habe. Fundamental neue Informationen sind in der Zwischenzeit nicht hinzugekommen. Eine stichhaltige Erzählung zur Kehrtwende? Gibt es diesmal nicht.
Das könnte den Grünen noch Probleme mit dem Kernklientel bereiten, das bisher vieles verziehen hat, weil es sich mitgenommen fühlte. Es könnte aber auch der Strahlkraft auf neue Wählergruppen schaden, in denen Habeck und Co zuletzt mit ihrer Ernsthaftigkeit punkteten. Die Grünen gestalteten ihre Politik immer eng an der Sache? Na ja. Manchmal gibt es auch bei ihnen das nackte politische Kalkül.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen