Grüne wollen Boris Palmer ausschließen: Radikaler ohne Resonanzraum
Nachsicht mit Tübingens OB Boris Palmer hatten die Grünen lange genug. Den Parteiausschluss zu versuchen, ist in zweifacher Hinsicht richtig.

E infach wird es nicht. Die Euphorie, mit der die Grünen noch am Wochenende das Parteiausschlussverfahren gegen Boris Palmer angeschoben haben, ist zwei Tage später verschwunden. Stattdessen setzen die Kopfschmerzen mit der Erkenntnis ein, dass der Weg zum Ausschluss hart ist und der Ausgang ungewiss. Trotzdem haben sich die Grünen richtig entschieden – in der Sache und strategisch.
Bei der Debatte über Palmers jüngsten Ausfall geht es schließlich nicht um die neuesten Spitzfindigkeiten irgendeiner identitätspolitischen Sekte. Palmer hat nicht versehentlich ein politisch inkorrektes Pronomen verwendet, einen Konsonanten in „LGBTIQ“ vergessen oder einen ausländischen Namen ohne die richtigen Sonderzeichen geschrieben. Er hat einen ehemaligen Fußballnationalspieler mit einer vulgären und rassistischen Unterstellung beleidigt – in einer Weise, die das Anstandsgefühl des ganzen demokratischen Spektrums verletzt.
Es ist kein Wunder, dass noch nicht mal konservative Medien Palmers Aussage an sich verteidigen. Als Streitfrage bleibt nur, ob das Ausschlussverfahren als Reaktion nicht überzogen sei. Nur: Wie sollte die Partei sonst reagieren?
Mit Nachsicht in verschiedenen Schattierungen haben es die Grünen lange genug versucht. Dass Palmer sein Facebook-Verhalten überdenkt, haben sie damit nicht erreicht. Im Gegenteil, er hat sich geradezu radikalisiert und die nächste schrillere Provokation im denkbar unpassendsten Moment platziert – mitten in den sorgfältig inszenierten grünen Wahlkampfauftakt hinein.
Spirale mittelfristig stoppen
Die Chance des Ausschlussverfahrens: Die Grünen könnten diese Spirale mittelfristig stoppen. Palmer würde als Parteiloser nicht schweigen, den Resonanzraum hätte er aber verloren. Die Gefahr indessen: eine Kampagne von konservativer Seite, die den Grünen vorwirft, als Verbotspartei keine Debatten zuzulassen.
Aber so selbstbewusst können die Grünen schon sein: An einen politischen Gegner, der ernsthaft fordert, dass Bürgermeister ohne Konsequenzen „N****schwanz“ sagen dürfen, würden sie ihm Jahr 2021 nicht viele Wähler verlieren.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Sauerland als Wahlwerbung
Seine Heimat
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
Erstwähler:innen und Klimakrise
Worauf es für die Jugend bei der Bundestagswahl ankommt
Pragmatismus in der Krise
Fatalismus ist keine Option
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte