Gewalt gegen Frauen: Willkommen in der Hölle, Ladys
Seit der Kölner Silvesternacht wird einer sexismusfreien Zeit hinterhergetrauert. Die hat es in Deutschland nie gegeben.
Wer als Frau schon mal bei Massensaufgelegenheiten wie Silvester, Herrentag oder Karneval auf der Straße war, weiß, dass jede Begegnung mit alkoholisierten Männern alles andere als ein Zuckerschlecken ist. Dafür bedarf es meistens nicht einmal irgendwelcher konstruierter Feiertage. Es reicht für einen solchen Eindruck auch ein gewöhnlicher Samstagabendspaziergang oder der Besuch irgendeines Musikfestivals.
Sogenannte „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“, wie die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder in ihrem gestrigen Tweet formuliert, konzentrieren sich auf ihr Übelstes und vergiften alles um sie herum. Jede Aktivität im öffentlichen Raum, jede Busfahrt, jeder Barbesuch, jeder 500-Meter-Fußweg bis zur Wohnungstür gestaltet sich wie ein Eierlauf durch die Hölle.
Laute Typengruppen bedeuten einen Straßenseitenwechsel, das bereite Handy für die Notruf-Schnellwahl, zwischen den Fingern zu einem Schlagring aufgestellte Schlüssel und viel Herzrasen. Sexualisierte Übergriffe haben sich in den Alltag normalisiert, all diese Maßnahmen sind zur Routine mutiert. Denn Frau sein bedeutet leider, in ständiger Angst vor Gewalt leben zu müssen.
Knapp drei Jahre ist es her, als eine Gruppe von Feministinnen auf Twitter den Hashtag #aufschrei ins Leben rief. Sie wollten das Tabu brechen, das Betroffene von einem offenen Umgang mit Sexismuserfahrungen und sexualisierter Gewalt auch heute noch hindert. Das Medienecho spiegelte damals zweierlei Dinge: Das kollektive Gesprächsbedürfnis auf einer Seite und die plättende Ignoranz gegenüber Vergewaltigungskultur auf der anderen. Anstatt konstruktive Debatten zu führen, fanden Journalist_innen und ganze Redaktionen es viel relevanter, in Grundsatzdiskussionen zu versinken.
Pragmatischer Feminismus
Ist Sexismus in Deutschland im Jahre 2013 überhaupt noch ein Ding? Haben wir das Patriarchat nicht schon längst überwunden? Ist Geschlechterungerechtigkeit ein Mythos minderbemittelter Frauen? Und überhaupt: Wollen Betroffene von Sexismus und sexualisierter Gewalt nicht eigentlich doch nur Aufmerksamkeit erhaschen? „Die Sexismusdebatte“ innerhalb von Mainstreammedien fand in einem Stil statt, den die Gesellschaft spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts hätte ablegen sollen.
Selbige Kristina Schröder, die plötzlich mit herrschaftskritischen Termini um sich wirft, verlachte die Initiative damals. Zuvor brachte sie ein Buch mit dem Titel „Danke, emanzipiert sind wir selber: Abschied vom Diktat der Rollenbilder“ heraus und ist wie die meisten ihrer CDU-Kolleginnen ein Beispiel für antifeministische Politikerinnen.
In jüngster Vergangenheit ist sie jedoch dem imaginären „Feminismus von rechts“-Club beigetreten, in dem es mit Birgit Kelle, Erika Steinbach und Frauke Petry vermehrt zu unterirdischen Aussagen gegen muslimische Männer und für vermeintliche Frauenrechte kommt. Sobald die Täter eben nicht mehr ihre potenziellen Väter, Ehemänner, Brüder oder Söhne sind, sondern die bösen Männer of Color, ist die Sorge um das Wohl deutscher Frauen sehr groß.
„Frau #Merkel, stellen Sie d. Sicherheit&Ordnung wieder her!“, twittert Petry und trauert der sexismusfreien Zeit in Deutschland hinterher, die es nie gegeben hat. Auch Steinbach will zuvor noch nie von sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum gehört haben. „Weil sich Frauen immer häufiger nicht mehr an jeden Ort zu jeder Zeit wagen können“, fürchtet sie.
Auf den Hinweis hin, dass es schon seit Jahrzehnten so ginge, erwidert sie: „Wann gab es Vergleichbares denn vor 20 Jahren. Bitte Fakten!“ Dass sie seit 25 Jahren Bundestagspolitikerin ist: geschenkt. Wer Fakten über Gewalt ausblenden will, kann es auch tun und erst in der Silvesternacht in Köln das Patriarchat entdecken.
Neue Dimension von was?
Ohne Zweifel: Die Straftaten, die sich in der Silvesternacht in Köln ereigneten, waren ein weiterer Beweis dafür, wie wenig Macht Frauen über ihre eigenen Körper haben und wie sehr sie männlicher Gewalt ausgesetzt sind.
Eine Gruppe organisierter Krimineller nutzte das Durcheinander am Hauptbahnhof aus, um mehrere Frauen zu bestehlen und dabei auch sexuell belästigen. Zu diesem Zeitpunkt liegen der Polizei über 100 Anzeigen vor – einige wegen Diebstahls, andere wegen sexualisierten Übergriffen.
Zu den Tätern hingegen liegen kaum Informationen vor. Männlich und „nordafrikanisch“ sollen sie gewesen sein, wohl auch betrunken. Wie viele es nun genau waren, steht nicht fest. Die Polizei sagt, es könnten drei oder 20 sein, einige Zeitungen bluffen von 1.000 geflüchteten Männern.
Ob einer der Täter einen Fluchthintergrund hat, wissen wir genauso wenig wie ihre Herkunft (oder, je nach dem, dem ihrer Eltern). Nur eines waren sie sicher nicht: blond, blauäugig, weiß. Dieses kleine Detail ist für die betroffenen Frauen irrelevant, schlimm waren die Übergriffe so oder so. Für die Öffentlichkeit allerdings scheint dieser Unterschied maßgeblich zu sein.
Hätte Birgit Kelle am Montag nach der Tat einen empörten Kommentar über die Geschehnisse geschrieben, wenn die Täter weiß wären? Wäre die Medienberichterstattung so üppig, wenn in der Vergangenheit jedes Ereignis, bei dem die Gewaltquoten hoch sind, genauso viel Beachtung gefunden hätte?
Beim Oktoberfest schätzt man die Dunkelziffer der Vergewaltigungen pro Jahr auf 200 – und da ist alles, was unter sexueller Belästigung gefasst wird, noch nicht einbegriffen.
Wäre die Zahl der Anzeigen so hoch angestiegen, wenn die mediale Aufmerksamkeit so gering geblieben wäre, wie es in Vergangenheit an Silvester, Oktoberfest, Karneval oder Herrentag der Fall war? Auch hier lässt sich nur vermuten, erfahrungsgemäß wäre es aber still um die Betroffenheit der Frauen gewesen. Erfahrungsgemäß hätte man den Frauen nicht geglaubt, ihnen gesagt, sie müssen im angeheiterten Zustand einfach, ja, was? Unaufmerksam gewesen sein? „Falsche Signale“ ausgesendet haben? Sich etwas eingebildet haben?
Ohne die Statistik der Angriffe in vorherigen Jahren lässt sich nur schwer festmachen, ob es sich um eine „neue Dimension der Kriminalität“ handelt. Fest steht: Organsierter Raub in Menschenmassen – ob an Touri-Hotspots, in Clubs oder an Silvester – ist genau so ein altes Phänomen wie die Zahl sexualisierter Übergriffe zu jenen Gelegenheiten. Ob am Tag der Deutschen Einheit am Brandenburger Tor, beim Headliner von Rock am Ring oder in den Zeltlagern der Occupy-Aktivist_innen: Männer, Alkohol und übersichtliche Menschengruppen waren schon immer eine Höllenkombination.
Raum für Ängste
Selbst mit klaren Zahlen ist es schwer, eindeutige Schlüsse zu ziehen. Trotz der vielen Anzeigen in Köln lässt sich nicht sagen, wie viele Betroffene es tatsächlich gab. Die Dunkelziffer betroffener Frauen ist unter anderem auch deshalb so schwer zu ermitteln, weil es für sehr viele lebensbedrohlich sein kann, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Das mag an einem unklaren Aufenthaltsstatus liegen, an der Anerkennung ihrer weiblichen Identität oder vergangenen Erfahrungen mit rassistischer Polizeigewalt.
Ginge es nicht um die Reproduktion des rassistischen Bilds der unschuldigen, weißen Frau, die vor dem aggressiven, muslimischen Mann geschützt werden muss, würden diese Vorfälle kaum viral gehen. Wieder fragt sich: Wessen Ängste werden ernstgenommen, wessen werden verlacht? Die rechte Vereinnahmung von Feminismus durch Steinbach und Konsorten geht so einfach über die Bühne, weil die Sicherheit von Frauen erst dann ernstgenommen werden kann, wenn sie ihrer rassistischen Agenda nützt.
Furcht vor der „Maskulinisierung des Straßenbilds“ ist hier Synonym für die Forderung nach einem Aufnahmestopp für männliche Asylbewerber. Wer als Frau schon mal auf der Straße war, weiß, dass ihre Maskulinisierung nicht erst seit der zackig vorantreibenden Islamisierung des Abendlandes ein Problem war.
Es sind nicht männliche Geflüchtete, die Vergewaltigungskultur aufrecht erhalten, sondern die sehr selektive Anhörung der Betroffenen und Victim-Blaming, wie es jetzt Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker anhand von Verhaltensregeln für Frauen à la „eine Armlänge Distanz“ betreibt.
Rechtspopulistische Pseudo-Feministinnen sind aber nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Bloggerin Nadia Shehadeh fasst auf ihrer Facebook-Seite treffend zusammen: „Solange die besoffenen Männer herkunftsdeutsch sind kann ich mich unter ihnen wohl und sicher fühlen.“
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