Geflüchteter zweiter Klasse: Deutschland wirft den Doktor raus
Aus der Ukraine geflüchtet, aber ohne ukrainischen Pass: Dem in Hamburg lebenden und als Pfleger tätigen Ghanaer Emmanuel Keson droht die Ausweisung.
M it angespannter Miene kommt er die Treppe herunter. Das goldene Schild auf seiner Brust fällt direkt ins Auge. In dicken Buchstaben steht dort: „Dr. Emmanuel Israel Keson“. Darunter in dünner Schrift „Pflegehelfer“. Warum arbeitet ein Arzt als Pflegehelfer? Sein Abschluss werde in Deutschland nicht anerkannt, erklärt Keson. Er hat in der Ukraine studiert und ist Ende April von dort nach Hamburg geflüchtet. Als einer von fast 3.000 Drittstaatenangehörigen in Hamburg durfte sich der gebürtige Ghanaer zunächst sechs Monate in Deutschland aufhalten. Diese Erlaubnis ist am 21. November ausgelaufen.
Ein dauerhafter Aufenthalt stellt sich als unerreichbar heraus. Statt ihn über seine Möglichkeiten aufzuklären, hätten ihn die Mitarbeiter des Amtes für Migration ignoriert und weggeschickt, sagt er. Nun soll er das Land verlassen. Dass er keine ukrainische Staatsbürgerschaft besitzt, macht ihn zum Geflüchteten zweiter Klasse.
Keson wirkt niedergeschlagen. Die letzten Monate haben ihm offensichtlich stark zugesetzt. Trotz alledem begrüßt er lächelnd und freundlich die Patienten des Pflegeheims der Philipp F. Reemtsma Stiftung, in dem er heute seinen letzten Arbeitstag hat. Am 7. November wurde er bei der Ausländerbehörde vorgeladen. Dort hat man ihm den Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt. Binnen zwei Wochen sollte er Deutschland verlassen.
Elf Jahre hat Keson in der Ukraine gelebt, sein Studium abgeschlossen und als Chirurg gearbeitet. „Ich bin in die Ukraine gekommen, um Arzt zu werden und eine bessere Person aus mir zu machen“, sagt er nachdenklich. Er zückt sein Handy. Darauf hat er Videos, die zeigen, wie er Operationen durchführt. Wenn er sich so im Arztkittel auf den Aufnahmen betrachtet, wirkt er stolz.
Geflohen nach dem Bombenangriff
Ein Bruder und zwei Schwestern waren ihm in die Ukraine gefolgt und studierten dort ebenfalls Medizin. Sie standen kurz vor ihrem Abschluss, als ein russischer Bombenangriff Kesons Wohnort Vinnytsia traf. Da war ihnen klar: Sie würden aus der Ukraine fliehen.
Auf dem Weg habe er viele traumatische Erfahrungen gemacht, sagt Keson. Eine Woche lang mussten sie vor der EU-Ostgrenze im Schnee ausharren und draußen in der Kälte übernachten. Grenzbeamte hätten sie mit Waffen bedroht. „Sie sagten uns, dass Ukrainer Priorität haben“, erzählt Keson. Immer wieder hätten die Beamten ihn und seine Geschwister nach hinten gestoßen. „Es war purer Rassismus“, meint Keson. „Wir waren denen egal.“
An der Grenze hätten Aktivisten sie angesprochen. „Sie sagten, dass sie uns helfen, nach Deutschland zu kommen“ erzählt Keson. Ein Bus sei gekommen und habe ihn und seine Geschwister nach Hamburg gebracht. „Die Organisation heißt Arrivati und setzt sich für Geflüchtete und Migranten ein“, berichtet er. Arrivati habe ihnen sehr geholfen. „Durch sie haben wir eine Unterkunft, psychische Betreuung und Hilfe bei Behördengängen erhalten.“
Sista Oloruntoyin, Mitgründerin der Organisation, erklärt, Arrivati-Aktivisten hätten Kontakte zu Schwarzen, antirassistischen und Migrantenorganisationen an den EU-Ostgrenzen. Deshalb hätten sie eine Überführung möglich machen können.
Dass Geflüchtete aus der Ukraine eine schnelle und unbürokratische Aufnahme finden, regelt die sogenannte Massenzustromrichtlinie der EU. Allerdings schließt dieses Gesetz nicht alle Geflüchteten aus Drittstaaten ein. Nur jene, die nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können, wie etwa Syrer, dürfen dauerhaft in Deutschland bleiben.
Für alle anderen hat Hamburg daher als erstes Bundesland eine sechsmonatige Übergangsregelung geschaffen: Mit einer „Fiktionsbescheinigung“, die bis zur Klärung des Aufenthaltsstatus gilt, können sie arbeiten und Sozialleistungen beziehen. Dieser Zeitraum ist es auch, der ihnen bleibt, um die Anforderungen für einen dauerhaften Aufenthaltstitel erfüllen.
Für Drittstaatenangehörige, die an einer ukrainischen Hochschule eingeschrieben sind, kommt zum Beispiel ein Studentenvisum in Betracht. Dafür müssen sie einen studienvorbereitenden Sprachkurs besuchen – und ihren Lebensunterhalt mit 934 Euro pro Monat sichern können.
Die Krux an der Sache ist für Keson und seine Geschwister, dass diese Sicherung des Lebensunterhalts voraussetzt, dass man das Geld bereits besitzt. Arbeiten dürfen Inhaber von Studentenvisa nämlich nur in den Ferien. Dass Keson und seine Geschwister als Pflegehelfer in Hamburg tätig sind, reicht deshalb nicht aus.
Alles, was er noch zu Geld machen könnte, hat Keson in der Ukraine zurückgelassen. Das habe er auch dem Amt für Migration mitgeteilt, sagt er. Er zahle von dem Geld, das er als Pflegehelfer verdiene, auch noch einen Studienkredit ab. Seine Eltern haben für die Ausbildung ihrer Kinder den gesamten Familienbesitz verkauft. Da Keson bereits sein Studium abgeschlossen hat, habe er die finanzielle Verantwortung für seine Geschwister übernommen. „Wir haben keine Rücklagen, die wir vorlegen können“, sagt der 31-Jährige.
Damit Keson in Deutschland als Arzt arbeiten kann, müsste er sein Studium anerkennen lassen. Allerdings befinden sich die dafür notwendigen Dokumente noch an seiner ukrainischen Hochschule. Die ukrainische Botschaft in Hamburg habe ihm nicht geholfen, an diese heranzukommen, sagt er. Er hätte daher selbst in die Ukraine fahren müssen – mit dem Risiko, nicht wieder zurückzukommen.
Für seine drei Geschwister wäre eine Abschiebung besonders verheerend, sagt Keson. Sie alle befinden sich kurz vor dem Abschluss ihres medizinischen Studiums. Seit Ausbruch des Krieges besuchen sie Online-Kurse an der ukrainischen Hochschule. Ihr Herkunftsland Ghana erkenne diese nicht an, sagt Keson. „Meine Geschwister müssten einige Semester wiederholen.“ Das würde wiederum Geld kosten, das sie nicht haben. Auch ob sie dort einen Studienplatz bekämen, ist ungewiss. Mit der Ausweisung aus der Bundesrepublik wäre ihr ganzes Studium also hinfällig. Nochmal von vorne zu beginnen, sei keine Option.
Selbst wenn Keson nach Ghana zurückkehren würde, um dort als Arzt zu arbeiten, würde das Geld vorne und hinten nicht reichen. In seinem Heimatland verdient ein Arzt weniger als 1.000 Euro. Dem gegenüber müsste Keson allerdings 2.802 Euro im Monat für die Sicherung des Lebensunterhalts seiner Geschwister aufbringen.
„Wir geben uns solche Mühe, uns so schnell es geht zu integrieren“, sagt Keson. Innerhalb weniger Monate hat er das Sprachniveau B2 in Deutsch erlangt. Dies bescheinigt ihm ein gehobenes Sprachniveau, mit dem er komplexe Sachverhalte verstehen und sich selbständig ausdrücken kann. Er wolle so schnell wie möglich das höchste Sprachlevel C2 erreichen. Seit Juli hat er als Pflegehelfer gearbeitet und Steuern gezahlt.
Er kann nicht verstehen, warum ihm ein weiterer Aufenthalt verwehrt wird. Antworten auf seine Fragen habe er im Amt für Migration nicht bekommen. Die Aufmerksamkeit des Amts gehöre ganz den ukrainischen Geflüchteten. „Mit Ukrainern machen die Mitarbeiter Scherze. Uns brüllen sie nur an und schicken uns weg“, sagt Keson.
Er habe weder über seine aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten, noch über sein Ablehnungsschreiben mit jemandem sprechen können. Für ihn sei diese ungleiche Behandlung ganz klar rassistisch motiviert. „Man will uns hier nicht haben und das wird uns deutlich gezeigt.“
Das sieht auch die Bürgerschaftsabgeordnete Carola Ensslen (Linke) so. Das Verhalten der Beamten im Amt für Migration sei „ohne jede Worte“. Besonders perfide findet die Fachsprecherin der Linken-Fraktion für Flucht und Migration, dass die Menschen keine Möglichkeit bekämen, mit der Person zu sprechen, die über ihren Antrag entscheidet. „Der Ablehnungsbescheid wird bewusst von Sachbearbeitern übergeben, die dazu nichts sagen können“, sagt Ensslen.
Auch der Sprecher der Grünen-Fraktion Philipp Wenzel hält derartige Erfahrungen nicht für ausgeschlossen. „Schließlich setzen wir uns als Bürgerschaft regelmäßig im Eingaben-Ausschuss mit solchen Schilderungen auseinander“, sagt er auf Nachfrage der taz.
Ist ein halbes Jahre eine kurze oder lange Zeit?
Daniel Schaefer, Pressesprecher der Innenbehörde weist den Vorwurf des rassistischen Verhaltens zurück. Auch der SPD-Abgeordnete Kazim Abaci mahnt, mit derartigen Anschuldigungen müsse man vorsichtig sein. Wenn Verstöße vorlägen, könne man sie schließlich beim Amt für Migration anzeigen.
Die schwierige Lage geflüchteter Personen aus Drittstaaten sei der SPD durchaus bewusst. „Aber die ungleiche Behandlung von Flüchtlingen liegt einfach im Recht begründet“, sagt Abaci. Die Massenzustromrichtlinie der EU schließe diese Personen nun mal nicht mit ein. Daran könne Hamburg allein nichts ändern.
Auch Schaefer sagt, nur der Bund könne die Gültigkeit der Fiktionsbescheinigungen verlängern. In den sechs Monaten hätten die Menschen immerhin die Möglichkeit, sich auf einen dauerhaften Aufenthaltstitel zu bewerben. Der SPD-Abgeordnete Abaci findet, das sei ein angemessener Zeitraum, in dem man sich schon orientieren könne.
„Das ist Quatsch“, meint Carola Ensslen. Sie fordert eine einjährige Dauer der Fiktionsbescheinigungen. „Es gibt hier keine zeitliche Begrenzung“, sagt sie. Die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung bedeute lediglich, dass über einen beantragten Aufenthaltstitel noch entschieden werden muss. „Das kann auch länger dauern“, sagt die Abgeordnete. Das Bundesinnenministeriums bestätigt das. „Eine in Tagen oder Monaten bemessene Höchstdauer der Fiktionswirkung gibt es nicht“, sagt dessen Pressesprecherin Christina Wendt.
Ensslen sieht das eigentliche Problem darin, dass mit dem vorübergehenden Aufenthaltstitel ein Anspruch auf Sozialleistungen entsteht. Den größeren Teil davon bezahle der Bund. „Hamburg hat womöglich die Sorge, dass sie zahlen müssen, sollte der Bund ihnen vorwerfen, dass sie Fiktionsbescheinigungen zu lange ausstellen“, vermutet Ensslen. Das halte sie aber für äußerst unwahrscheinlich. Ohnehin handle es sich um „lächerlich kleine Summen“.
Vor dem Hintergrund traumatischer Fluchterfahrungen und einer neuen Lebenssituation sei ein halbes Jahr ganz einfach zu kurz. „Allein bis die vorübergehende aufenthaltsrechliche Situation geklärt ist, sind schon sechs Monate vergangen“, sagt Ensslen.
Nur noch bis Januar geduldet
Die Fiktionsbescheinigung existiere immerhin erst seit Mitte April und auch die Anerkennung von damit verbundenen Sozialleistungen habe einige Zeit in Anspruch genommen. „Es war von vornherein klar, dass es für viele nicht machbar sein wird, einen Aufenthaltstitel zu erhalten“ sagt die Abgeordnete der Linken.
„Mein Bruder und meine Schwestern sind verzweifelt“ sagt Keson. Die Verzweiflung sei so groß, dass zwei von ihnen sogar versucht hätten, Suizid zu begehen. Er verstehe nicht, warum man ihnen das antut. „Wir haben jahrelang in der Ukraine gelebt“, sagt Keson. „Ich war kurz davor meine Staatsbürgerschaft zu erhalten.“ Am liebsten würde er weinen, sagt er. Es seien einfach zu viele Emotionen, die er nicht verarbeiten könne.
Viele würden sich aus Angst vor negativen Folgen für ihren Aufenthaltstitel nicht trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich spreche repräsentativ für alle, die aus der Ukraine geflüchtet sind und keine ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen“, sagt der Arzt. „Wir wollen, dass sich etwas ändert.“
Einen ersten Schritt hat er gemacht: Mit anderen Betroffenen hat er eine Eingabe an die Hamburger Bürgerschaft gerichtet, mit dem Ziel, die Ausweisung auszusetzen. Einstweilen hat Keson eine Petitionsduldung erhalten, damit er weitere Papiere einreichen kann, die er aus der Ukraine besorgen müsste. Sie läuft im Januar ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt