Flüchtlingspolitik in Europa: „Asyl in der EU ist extrem wichtig“

Menschen in Not werden aufgenommen, weil es richtig ist, sagt der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi – nicht, weil es leicht ist.

Menschen halten am Hauptbahnhof Schilder hoch, auf denen steht, wievielen Menschen sie Unterkunft gewähren können

Menschen am Hauptbahnhof in Berlin signalisieren, wieviele Geflüchtete aus der Ukraine sie aufnehmen können Foto: Pierre Adenis

taz am wochenende: Europa tut seit Jahren alles, um Flüchtlinge vom Kontinent fernzuhalten. Plötzlich aber nahm es Millionen von Ukrai­ne­r:in­nen gemeinschaftlich, solidarisch und menschenwürdig auf. Wie erklären Sie sich das?

Filippo Grandi: Ja, die Antwort auf die Flüchtlingssituation war sehr gut. Es gab Schwierigkeiten, aber im Großen und Ganzen war die Reaktion sehr effektiv. Die Menschen durften dorthin ziehen, wo sie Unterstützung finden konnten, bekamen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sozialen Dienstleistungen. Es gab Elemente, die dies im Fall der Ukraine leichter gemacht haben: die geografische Nähe, die engen, zuvor bestehenden Verbindungen, die Sympathie für das Land angesichts der Invasion und der klare Zusammenhang zwischen den Bombardements und den Fluchtbewegungen. Aber man nimmt Menschen in Not auf, weil es richtig ist und weil sie Rechte haben – nicht, weil es leicht ist.

Wie kann das, was die EU hier gezeigt hat, erhalten werden?

Sie hat bewiesen, dass es eine effektive Aufnahme geben kann. Und das ist überraschend; oder auch nicht, wenn man sieht, dass die EU solche Schwierigkeiten mit viel kleineren Zahlen von Ankommenden aus anderen Teilen der Welt hatte, sich aber jetzt in wenigen Tagen so gut organisieren konnte.

Kann das auf andere Situationen übertragen werden, in denen Menschen Europa erreichen?

Filippo Grandi, 65, ist seit 2015 Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Der Historiker stammt aus Mailand und arbeitet seit 1988 mit Unterbrechungen für den UNHCR. Grandi ist Schirmherr des Human Rights Film Festival Berlin der NGO „Aktion gegen den Hunger“, das noch bis zum 23. Oktober läuft.

Es gibt in den letzten Jahren eine starke Anti-Flüchtlings-, Anti-Migranten-Rhetorik. Sie enthält viele Elemente. Eines ist offener Rassismus. Ein anderes Element ist eine rhetorische Figur: Es sei unmöglich, mehr aufzunehmen, ‚Wir sind voll, die öffentliche Meinung ist dagegen‘. Das Beispiel der Ukraine-Aufnahme hat all das widerlegt. Es ist möglich, und wie Kanzlerin Merkel sagte, wir können es schaffen.

Sprechen wir von Angela Merkel. Sie haben ihr in der vergangenen Woche den Nansen-Preis für ihre Flüchtlingspolitik während der Syrien-Krise verliehen, unter anderem, weil sie die Verantwortung für die Flüchtlinge „nicht auf andere abgewälzt“ habe.

Ja.

Von der kurzen Phase 2015 abgesehen, hat Deutschland aber während Merkels Amtszeit genau das getan: Die Verantwortung auf andere abgewälzt, auf die Länder an den EU-Außengrenzen, Libyen, die afrikanischen Türsteherstaaten, die Türkei.

Deutschland spielte ab 2014 eine wichtige Rolle, als es einen großen Zustrom von Syrern gab. Nebenbei gesagt hat sich gezeigt, dass deren Integration in Deutschland sehr erfolgreich verlief – nicht ideal, es gibt Herausforderungen, aber Kanzlerin Merkels Einschätzung war korrekt und zukunftsweisend. Wir haben ihr den Preis gegeben, um zu zeigen, dass Führungsqualitäten und Mut in solchen Situationen wichtig sind. Wir wissen alle, dass es viel Widerstand gab, dass es in anderen Staaten einen politischen Backlash und Tendenzen gegen Migranten gab.

Seit dieser Zeit ist Deutschland eine treibende Kraft dabei, Europas Grenzen zu schließen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Nach 2015/2016 hat Europa den Zugang eingeschränkt. Das ändert aber nichts daran, dass Menschen weiterhin kommen werden. Es ist wichtig, dass sie Zugang zu Schutz erhalten, eine faire Prüfung und dass sie nicht an den Grenzen zurückgewiesen werden. Und dass nicht, wie Großbritannien oder Dänemark es vorhaben, Asylverfahren in andere Länder verlagert werden. Damit sind wir nicht einverstanden, wir haben das oft gesagt.

Die Idee, Asylverfahren in exterritoriale Lager jenseits der EU zu verlagern, wird bis heute verfolgt. Denkbar wäre das nur, wenn der UNHCR sich daran beteiligen würde. Können Sie ausschließen, das zu tun?

Es käme darauf an, wie es ausgestaltet wäre. Entscheidend ist, dass alle Rechte gewahrt werden. Wenn man in Europa ankommt und es heißt – wie es in Großbritannien vorgesehen ist –, wir bringen Sie woanders hin, damit Sie da ein Asylverfahren durchlaufen, und wenn man anerkannt wird, dann muss man trotzdem woanders bleiben, dann können wir das nicht akzeptieren. Einmal hat mich ein Journalist kritisiert, weil wir Ländern wie Sudan dabei helfen, ihr Asylsystem zu verbessern. Warum sollten wir das nicht tun? Es gibt viele Flüchtlinge, die dort ankommen. Wenn sie gut aufgenommen würden, gäbe es mehr Stabilität und Sicherheit und weniger Gründe, auf schwierige Fluchtrouten zu gehen. Das ist natürlich hypothetisch. Und trotzdem, wir müssen das ganzheitlich betrachten, statt zu sagen: Nur dies ist falsch, nur dies ist richtig. Und anstatt nur auf das Asyl in der EU zu schauen. Asyl in der EU ist extrem wichtig; es muss Bestand haben und dazu gehört der Zugang zum Territorium.

Der wird aber immer gewaltsamer verweigert, durch Internierung oder Pushbacks.

Durch Pushbacks und das Nicht-Retten auf See. Das gehört zu den Pushbacks dazu. Das ist noch schlimmer. Boote auf See sich selbst zu überlassen, das passiert leider, dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich erkenne die extremen Schwierigkeiten dieser Fluchtbewegungen an, aber das Zurückdrängen kann keine Lösung sein. Europa hat seine Kapazitäten für die Seenotrettung weitgehend abgebaut, übrig sind nur noch Küstenwachen und einige NGOs. Das ist völlig inakzeptabel. Es geht nicht nur um Flüchtlingsrecht, sondern auch um Seerecht und Menschenrecht. Wir sind gegen Pushbacks. Wir sehen aber auch, dass es Manipulationen auf der anderen Seite gibt, denken Sie etwa an die Lage an der Grenze von Belarus und Polen Ende 2021. Die Menschen wurden ermutigt, nach Europa zu kommen. Das ist nicht akzeptabel. Trotzdem sind die Pushbacks nicht hinnehmbar, sie gefährden Leben und körperliche Integrität.

Aber eine wachsende Reihe von Regierungen sieht sich – nicht nur durch solche Ereignisse – zu Pushbacks offen legitimiert. Sie sagen klar, dass sie keine Asylanträge in Europa, keine Aufnahme mehr wollen. Was sagen Sie denen?

Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge

„Pushbacks sind nicht hinnehmbar, sie gefährden Leben und körperliche Integrität“

Wir hören das sehr selten, dass Regierungen sagen, sie wollen gar keine Flüchtlinge. Das ist keine offizielle Linie. Was soll ich sagen, wenn sie den internationalen Verträgen widersprechen, dann haben sie Unrecht. Sie sollen sich an Verträge halten und wir unterstützen sie dabei. Wir müssen deshalb am EU-Asylsystem arbeiten, damit es schneller und effizienter wird. Wir müssen anerkennen, dass das komplizierte Angelegenheiten sind. Es gibt Menschen, die nach Europa kommen, ohne Flüchtling zu sein. Das liegt an fehlenden Wegen für die Arbeitsmigration, die für Europa so unverzichtbar ist. Deshalb beantragen diese Menschen Asyl. Es braucht mehr effektive und sichere Wege der Migration, sonst sind die Kanäle für Asyl immer überlastet.

Der UNHCR mahnt ständig, dass mehr für Klimaflüchtlinge getan werden müsse. Gleichzeitig scheuen Sie davor zurück, zu fordern, dass die Erd­erhitzung als offizieller Fluchtgrund anerkannt wird – was die Industriestaaten unbedingt vermeiden wollen. Warum sind Sie da so zurückhaltend?

Wer sagt, dass wir zurückhaltend sind?

Alle Ihre entsprechenden Dokumente lesen sich so.

Denken Sie an Krieg. Der UNHCR spricht nicht von Kriegsflüchtlingen, sondern von Flüchtlingen. Krieg ist dafür ein wichtiger Treiber. Genauso ist es beim Klima. Die Definition der Flüchtlingskonvention von 1951 ist breit genug, um Menschen einzuschließen, die wegen der klimatischen Veränderungen fliehen.

Sie haben aber bislang keine vergleichbaren rechtlichen Ansprüche auf Schutz.

Wenn es eine Naturkatastrophe gibt, eine Flut oder eine Dürre, dann brauchen Menschen Schutz und Hilfe, wie alle anderen. Doch dort, wo der Klimawandel Folgen hat, die zu Vertreibung beitragen, gibt es immer mehr als nur einen einzigen Fluchtgrund. Der Klimawandel geht etwa im Sahel oder am Horn von Afrika mit Konflikten einher. Die verheerendsten Folgen hängen mit diesen Konflikten zusammen. Es ist schwer zu sagen, was zuerst kommt, ob es sich nun um Klima- oder Kriegsflüchtlinge handelt. Man kann Fluchtbewegungen nicht einfach ein Label anheften. Doch wenn jemand aus mehreren Gründen aus einem Land X flieht und Klima ist einer dieser Gründe, hätte ich keine Zweifel festzustellen, dass dieser Mensch ein Flüchtling ist. Wenn sein Land diesem Menschen keinen Schutz bieten kann, dann ist das ein legitimer Grund für Asyl.

Die Berichte des UN-Flüchtlingshilfswerks sind eine alljährliche Inventarisierung anschwellender Katastrophen. Was macht Ihnen da Hoffnung?

Hoffnung ist rar in diesen Tagen. Wenn wir sehen, was in Ländern wie der Ukraine, Äthiopien, Burkina Faso, Nicaragua oder vielen anderen Ländern passiert, stimmt einen das nicht gerade hoffnungsvoll. Aber die Grundlage für meine Arbeit ist nicht, ob es Hoffnung gibt oder nicht, sondern weil es Prinzipien gibt, die hochzuhalten sind und weil es Millionen von Menschen gibt, die Hilfe brauchen. Die aber auch unglaublich stark und widerstandsfähig sind. In der EU schauen wir immer auf das Negative. Aber wir sollten nicht vergessen, dass für die überwiegende Zahl der 100 Millionen Vertriebenen Solidarität eine Realität ist. In Afrika wird für Flüchtlinge kaum eine Grenze geschlossen. Und das sind keine reichen Länder. In Uganda etwa leben 1,5 Millionen Flüchtlinge. Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie hatte die Regierung alle Grenzen geschlossen. Dann trat sie an uns heran und sagte: „Vor unserer Grenze sind Tausende Menschen aus dem Kongo. Wir wollen sie hereinlassen, wir dürfen nicht zulassen, dass sie mit Macheten getötet werden. Aber wegen Covid kann das eine Gefahr für unsere eigene Bevölkerung darstellen. Könnt ihr uns helfen, die Grenze für sie zu öffnen?“ Es gibt viele weitere solcher Beispiele. Diese Solidarität, gerade in armen Ländern, und die Resilienz, die Kraft der Menschen, mit widrigen Umständen umzugehen, sie sind Anlass zur Hoffnung.

Und was macht Ihnen Angst?

Die Spaltung. Die macht mir Angst. Nehmen Sie den internationalen Flüchtlingsschutz. Dessen rechtliche Basis ist Kooperation. Die Genfer Konvention sagt klar, dass Flüchtlinge die gemeinsame Verantwortung der internationalen Gemeinschaft sind. Diese Idee von Lastenteilung aber wird jeden Tag durchkreuzt von Spaltungen dieser Gemeinschaft, die jeden Tag tiefer werden und der Krieg in der Ukraine hat sie nochmal tiefer gemacht als zuvor. Das geschieht in einer Zeit, in der wir den Klimanotstand bekämpfen müssen, in der wir wachsende Fluchtbewegungen sehen, in der wir etwas gegen Pandemien und wachsende soziale Ungleichheiten tun müssen.

Sie stammen aus Italien. Ihr Heimatland wird wohl nun von einer Frau regiert, die aggressiv gegen Flüchtlinge vorgehen will. Was macht das mit Ihnen?

Ich werde mit der italienischen Regierung arbeiten, wie ich mit jeder Regierung arbeite. Das ist meine Aufgabe.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.