Ende der Beschimpfungen während Corona: Ich bin kein Ichling!

Mit moralischen Anklagen und Ermahnungen bekommen wir keine Pandemie in den Griff. Dann lieber einen ordentlichen Lockdown.

Gestapelte Stühle, Flatterband und geschlossene Rolläden

Weil es nicht anders geht: Lockdown Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Ich habe es satt, beschimpft zu werden. Interesse an meinem Leben? Es spielt sich derzeit weitgehend zwischen der Annahme von Onlinebestellungen und meinem Schreibtisch ab. Also ziemlich risikolos. Mein Terminkalender ruht in einer Schublade. Die wenigen Daten, die ich darin eintragen müsste, kann ich mir auch so merken.

Heute habe ich zum ersten Mal in meiner eigenen Wohnung eine Maske getragen. Als ein Handwerker kam. Noch vor wenigen Monaten habe ich Masken für blödsinnig gehalten. Es ist ja möglich, dazuzulernen.

Kaum jemand außer wirklich böswilligen Menschen wirft einem Virologen, einer Journalistin oder einem Politiker vor, dass sie vor einem Jahr oder vor sechs Monaten nicht wussten, was sie heute wissen. Und ich bin nach wie vor unendlich dankbar, dass nicht ich Entscheidungen treffen muss, die am Ende zu Todesfällen führen können. Sei es, weil jemand an einer Corona-Infektion stirbt oder in Folge einer Depression suizidiert.

Fruchtbarer Boden für eine Pandemie

Aber warum maßen sich so viele Leute ein Urteil über die angebliche Leichtfertigkeit der Bevölkerung an? „Sämtliche Ermahnungen an die Vernunft der Bundesbürger haben offenbar nichts gebracht“, erklärte ein Moderator der „Welt“-Nachrichten. Ein Kolumnist auf Spiegel online schrieb: „Eine Gesellschaft, in der das Ich vor dem Wir kommt, ist fruchtbarer Boden für eine Pandemie. Und so stolpern wir Ichlinge durch diese Krise.“

Ich weiß nicht, in welchen Kreisen sich diese Kollegen bewegen – aber es sind nicht meine. Mein gesamtes Umfeld tut seit Wochen nichts anderes, als sich verantwortungsbewusst zu verhalten. Möglichst wenige Kontakte, möglichst vorsichtig. Aber einige müssen öffentliche Verkehrsmittel benutzen, in der Tat. Andere können nicht von zu Hause aus arbeiten. Und für wieder andere ist es nicht vermeidbar, eine Arztpraxis aufzusuchen. Pech.

Niemand – absolut niemand –, den oder die ich kenne, verbringt die Freizeit mit der Planung von Coronapartys oder gibt grinsend die Adressen weiter, in denen – höh höh höh – heimliche Treffs von Clubliebhabern stattfinden.

Was sollen die Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit der Pandemie?

Kein Zweifel: So etwas gibt es, leider. Und, ja: In Medien finden derlei Aktivitäten viel Beachtung. Jede Abweichung von der Norm ist eben spannender als die Norm – so funktioniert Massenkommunikation. Aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung vergnügt sich nicht damit, illegale Zusammenkünfte zu organisieren. Sondern legt Masken an.

Mehr als 80 Prozent Zustimmung zu Maßnahmen der Regierung, die eine beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit bedeuten? Davon kann die Exekutive normalerweise nur träumen. Was also sollen die Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit der Pandemie?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die sind ja nicht neu. Krebs? Bestimmt eine Folge des Rauchens. Herzkrank? Na ja, kein Wunder. Hat sich ja nie – oder zu viel, krankhaft ehrgeizig – bewegt. Schlaganfall? War doch zu erwarten. Hat zu viel oder zu wenig dies oder jenes getan. Schon klar. Wer krank ist, ist selber schuld. Irgendwie. Das entlastet, in psychischer Hinsicht: Krank werden die anderen. Nicht man selber. Und diese anderen hätten ja wissen können, wie sich das vermeiden lässt.

Diese Grundhaltung ist schon in normalen Zeiten herzlos und dumm. Angesichts einer Seuche ist sie absurd. Ja, wir brauchen einen Lockdown. Aber nicht, weil sich die Bevölkerung verantwortungslos verhält. Das tut sie nämlich nicht. Sondern weil wir nicht wissen, wie wir der Pandemie anders Herr werden können. Traurig genug.

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