Diskussion um Kriegsprotagonisten: Stauffenberg und Bandera
Der Nationalistenführer ist in der Ukraine keineswegs unumstritten. Anders in Deutschland, wo man nichts auf die Helden kommen lässt.
M itten in Europa tobt ein völkisch-kolonialer Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Staatlichkeit. Als Osteuropahistoriker, deutscher und ukrainischer Staatsbürger will ich das Anerkennungs- und Erlösungsbedürfnis von niemandem verletzten, der mit der methodenfernen Unvergleichbarkeitsklausel „Nie wieder“ hantiert. Und selbst wenn. Mein jüdischer Großvater hat in den Reihen einer der vier ukrainischen Fronten der Roten Armee an der Zerschlagung der NS-Beteiligungsdiktatur mitgewirkt.
Viel später wurde die gewaltsame Kapitulation zur (Entlastungs-)Formel einer „Befreiung“ der Deutschen. Diese Befreiungsformel war zugleich eine diskursive Erlösungshoffnung,welche Richard von Weizsäcker in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985 folgendermaßen formulierte: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“
ist Historiker und Mitglied des Verbandes der OsteuropahistorikerInnen e. V. (VOH) sowie des Deutschen HistorikerInnenverbandes (VHD).
Die Erlösungshoffnung, die auch der verdienstvolle Soziologe Harald Welzer als Talkshow-Liebling mit missionarisch artikulierten deutschen Kriegserinnerungen zur Untermauerung seiner friedensdiplomatischen Überlegenheit instrumentalisiert, folgt dem Credo: „Das ganze Leben ist eine Erfindung.“ In der erinnerungskulturellen Zeitenwende erfindet er mit anderen Talkshow-Lieblingen, wie dem eloquenten Universalphilosophen Richard David Precht, die „Nie wieder“-Formel neu.
Unter dem offenen Emma-Brief steht dazu das Motto an die Leser- und Zuhörerschaft: „Bleibt mutig!“ Was für ein Hochmut! Der Historiker Timothy Snyder, der von der Ukraine viel mehr Ahnung hat, schreibt: „Dreißig Jahre lang haben Deutsche die Ukrainer über Faschismus belehrt. Als der Faschismus tatsächlich kam, haben die Deutschen ihn finanziert, während die Ukrainer im Kampf gegen ihn sterben.“
Sieg auf dem Erinnerungsschlachtfeld
Derweil gewinnen nennenswerte Teile der deutschen Empörungslandschaft wenigstens auf dem eigenen Erinnerungsschlachtfeld den Zweiten Weltkrieg neu. In deutschen Erinnerungsressourcen mangelt es zwar an sauberen Held*innen, aber nicht an Heroisierungsbedürfnissen.
Auch in diesem Jahr wird die Bundesregierung ihrem unheroischen Heldenkult huldigen, sich selbst, ihre „wehrhafte Demokratie“ in Anbetracht der in Zahlen fassbaren Zögerlichkeit der Waffenlieferungen feiern – und die späten Attentäter des 20. Juli um den Nationalsozialisten und Antisemiten Graf Claus Schenk von Stauffenberg und seine zum Teil im Holocaust sozialisierten Mitattentäter.
Es handelt sich um einen Gründungsmythos und amnes(t)iepolitischen Heldenkult, der in Auftritten vergangenheitsüberwältigter Bundesregierungen grob nachlesbar ist. So bei Ex-Bundespräsident Joachim Gauck: „Denn der 20. Juli und all die anderen Versuche des Widerstands gegen Hitler und das NS-Regime, sie haben nicht nur eine faktische Bedeutung, sondern auch eine sehr klare moralische – und […] natürlich auch eine eminent politische. Aus diesem Erbe konnte die neu gegründete Bundesrepublik, als sie – allerdings verspätet – die Bedeutung des militärischen Widerstands begriffen hatte, Legitimation schöpfen.“ Zwar waren die Attentäter des 20. Juli nicht erfolgreich, obwohl sie nur die Führung zum Sturz bringen wollten – sie werden aber mangels anderer heroischer Figuren gerne zur symbolischen deutschen Neuerfindungsfähigkeit zitiert.
Stauffenberg war Nazi und Antisemit
Weder ihre langjährigen NS-Verstrickungen noch der Umstand des systeminternen Umsturzversuchs noch ihr rassischer Antisemitismus, ihr militanter Slawenhass oder die Holocaust-Verwicklungen nehmen ihnen den Nimbus. Dieser wird von höchsten deutschen Repräsentant*innen gefeiert. Der Historiker Stephan Stach hat zu Recht in der ausufernden Debatte über Stepan Andrijowytsch Bandera und den ehemaligen Botschafter Andrij Melnyk deutsche Mythen erwähnt, die in Empörungsritualen über die Umdeutungsmythen der anderen gerne vergessen werden.
Zugleich ist der mir unangenehme Bandera-Kult in Teilen der (West-)Ukraine mitnichten unumstritten, nur zwischen „West“ und „Ost“ gespalten, gar flächendeckend – trotz seiner erinnerungspolitischen Vereinnahmungen und vergessenspolitischen Ausblendungen als Freiheitskampfsymbol im deutlich längeren Kampf gegen die Nazis und – noch länger – gegen die Sowjets.
Seit 2019 wird Bandera von der moderateren und explizit reflexionsbereiten neuen Leitung des Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedächtnisses nicht mehr als geschichtspolitisches Symbol gestärkt. Der neue Chef, Anton Drobovych, setzt, anders als sein Vorgänger, auf eine kritischere Aufarbeitung auch der Schattenseiten der eigenen Nationalgeschichte. Wolodimir Wiatrowitsch leitete bis 2019 das Ukrainische Institut für „Nationales Gedächtnis“. Sein Geschichtsbild ähnelte dem von Melnyk.
Das scheint der Podcaster Tilo Jung nicht zu wissen oder es interessiert ihn nicht. Insofern ähnelt das Melnyks Apologetik zu ethnischen Säuberungen von bis zu 100.000 ermordeten römisch-katholisch-polnischen Zivilist/innen wie zudem zum Holocaust. In seinem viralen Interview mit dem ukrainischen Ex-Botschafter hat Jung eine nun durch die Zeitungslandschaft geisternde Zahl von „800.000“ Holocaust-Opfern durch die Hand von namenlosen „Nazis“ und „Bandera-Leuten“, was nummerisch und relational verzerrt ist.
Die Zahl hat erst das Redaktionsnetzwerk Deutschland infolge eines Interviews mit dem Fachkenner Kai Struve und nur als kurzen Nachsatz hinter dem Interview in Bezug auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten um Bandera korrigiert. Und so scheinen Teile des deutschen Vergangenheitsbewältigungsbetriebs den Weltkrieg zumindest moralpolitisch wieder gewonnen zu haben, können die Ukraine und ihren jüdischen Präsidenten belehren. Stauffenberg sei ein gut gewordener Nazi.
Aber: Im Gegensatz zu Stauffenberg bleibt Bandera ein Faschist und Symbol der deutschen Gutwerdung.
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