Coronasituation in Deutschland: Alarm an der falschen Stelle
Gesundheitsminister Lauterbach setzt voll aufs Boostern. Doch damit allein wird sich Omikron nicht aufhalten lassen.

D ie deutsche Coronapolitik setzt derzeit einen falschen Schwerpunkt. Der neue SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnt intensiv vor Impfstoffmangel im Januar. Tatsächlich werden die geplanten Lieferungen dann niedriger ausfallen als die Rekordmenge, die aktuell verimpft wird. Aber für den realistischen Bedarf dürfte es trotzdem langen. Denn bis Ende des Jahres wird mehr als die Hälfte der Menschen, die geboostert werden können, ihre Auffrischungsimpfung bereits erhalten haben.
Zudem hat die EU jetzt eine große Sonderlieferung von Moderna-Impfstoff an Deutschland genehmigt. Damit dürfte es keine Knappheit mehr geben – zumindest wenn der Impfstoff sinnvoll eingesetzt wird und Biontech vor allem für die Unter-30-Jährigen genutzt wird, die laut Stiko-Empfehlung nur diesen Impfstoff bekommen dürfen.
Dass Lauterbach trotzdem noch mehr Impfstoff organisieren will, ist durchaus sinnvoll, um auch dann noch genug zu haben, wenn die Impfbereitschaft überraschend stark steigt, es Veränderungen am Impfschema gibt oder viele Dosen ungenutzt weggeworfen werden müssen. Aber die große Aktivität in Sachen Impfstoff steht im merkwürdigen Gegensatz zur eher abwartenden Haltung gegenüber der großen Bedrohung durch die Omikron-Variante.
Schnelle Reduktion der Kontakte erforderlich
Denn in Ländern wie Dänemark oder Großbritannien zeigt sich derzeit, wie schnell sich dieser neue Virustyp verbreitet – mit Verdopplungszeiten von nur zwei bis drei Tagen. Selbst wenn die Krankheitsverläufe milder wären als bei der Delta-Variante – was nach den bisherigen Daten möglich, aber keineswegs sicher ist –, könnte die hohe Fallzahl innerhalb kurzer Zeit trotzdem zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen.
Um diese neu anrollende Welle zumindest zu verlangsamen, wäre nach Ansicht vieler Expert*innen eine schnelle Reduktion der Kontakte erforderlich. Doch davon ist hierzulande nichts zu sehen. In Deutschland erfreut man sich weiterhin an den sinkenden Gesamtinzidenzen, ohne wahrzunehmen, dass Omikron innerhalb dieser sinkenden Gesamtzahl stark wächst.
Deshalb wird sich der Trend schon bald umkehren – was durch die Meldeverzögerung nach Weihnachten zudem erst mit Verspätung wahrgenommen werden dürfte. Doch statt bereits konkrete Maßnahmen vorzubereiten, soll in Deutschland zunächst der neu eingesetzte Expertenrat bis Weihnachten eine Stellungnahme erarbeiten.
Unverständlich ist auch, dass die Gesundheitsminister von Bund und Ländern trotz der bedrohlichen Lage gerade beschlossen haben, die Testpflicht für Geboosterte auszusetzen. Denn Expert*innen gehen zwar davon aus, dass die Drittimpfung auch bei Omikron gegen schwere Verläufe schützt – für die Infektion und damit auch die Ansteckungsgefahr für andere gilt das aber nicht gleichermaßen.
Die Organisation zusätzlicher Booster-Termine mag politisch angenehmer sein als die Vorbereitung neuer Kontaktbeschränkungen. Doch um die Omikron-Welle aufzuhalten, wird es wohl leider beides brauchen.
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