Berliner Neutralitätsgesetz: „Niemand ist ganz neutral“
Das Kopftuchverbot im Staatsdienst wackelt. Unverständlich, dass die SPD daran festhält, sagt die Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt.
taz: Frau Bozkurt, im Oktober zeigten sich rund 100.000 Menschen in Berlin solidarisch mit den Protesten im Iran – die wohl größte Demonstration diese Jahr in Berlin. Warum bewegt die Revolution im Iran hier so viele Menschen?
Tuba Bozkurt: Berlin ist eine feministische und solidarische Stadt. Die „Berliner Vielfalt“, wie ich das gerne liebevoll nenne, bedeutet die Zusammenkunft unterschiedlichster Herkünfte, Identitäten und Lebensentwürfe in Berlin. Migrant:innen und migrantisierte Menschen sind hier sichtbarer und aktiver involviert im Stadtbild. Auch eine starke iranische Community bereichert als Teil dieser Vielfalt. Das ist der fruchtbare Boden für intersektionalen und progressiven Feminismus. Und genau der begründet die sehr deutliche Solidarisierung mit den Iranerinnen in ihrem feministischen Kampf um Selbstbestimmung. Hier stehen Kopftuch tragende und Minirock tragende Frauen* zusammen und kämpfen gemeinsam für „Frauen, Leben, Freiheit“.
geboren 1983, ist 2021 für Bündnis 90/Die Grünen direkt ins Berliner Abgeordnetenhaus im Wahlkreis Gesundbrunnen gewählt worden. Als Sprecherin für Antidiskriminierung, Digitalwirtschaft und Industrie setzt sie sich gegen jegliche Form der Diskriminierung und für einen sozial- und klimagerechten Umbau der Berliner Industrie und Digitalwirtschaft ein.
Im Iran lösten Frauen, die ihr Kopftuch ablegten, eine Revolution aus. Für Sie wäre es eine Revolution, wenn Frauen frei entscheiden können, ein Kopftuch zu tragen. Ist das ein Widerspruch?
Im Gegenteil, in beiden Punkten geht es um die Selbstbestimmung der Frau gegenüber dem Staat. Der moderne Feminismus ist von intersektionaler Solidarität geprägt: Frauen setzen sich dafür ein, dass andere Frauen selbst darüber entscheiden können, wie viel oder wenig sie tragen wollen, und nicht die Gesellschaft, keine Autorität, kein Regime. Die Frauen im Iran haben einen unfassbaren Mut. Sie kämpfen für die Freiheit der Frau. Selbstbestimmt sollten Frauen aber auch hier sein. Wenn sie freiwillig ein Kopftuch tragen wollen, sollen sie auch ihrer Berufsqualifizierung als Lehrerin nachgehen können.
Seit der Einführung des Berliner Neutralitätsgesetzes können Kopftuch tragende Frauen nicht mehr im Staatsdienst arbeiten. Aktuell prüft das Bundesverfassungsgericht das Gesetz. Abhängig von der Rechtsprechung will die aktuelle Koalition das Neutralitätsgesetz entweder erhalten oder abschaffen.
Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) hat vor Kurzem erklärt, dass es weiterhin unklar sei, wann das Urteil kommen werde. Sie sprach sich aber auch klar dafür aus, das Gesetz abzuschaffen. Die Antidiskriminierungspolitiker:innen der Koalitionsparteien sind sich einig, dass die Empfehlungen der Expert:innenkommission antimuslimischer Rassismus Beachtung finden müssen. Und trotzdem hält die SPD am Neutralitätsgesetz fest. Das ist vollkommen unverständlich. Das Neutralitätsgesetz diskriminiert Kopftuch tragende Frauen, bedeutet praktisch ein Berufsverbot und greift in das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein. Das müssen wir überwinden – ich bin klar für eine Abschaffung.
Sollte der Staat Bürger:innen also nicht neutral gegenübertreten?
Der Staat hat gerecht zu sein und darf niemanden diskriminieren. Durch das Neutralitätsgesetz tut er das aber. Ein Staat schöpft sich aus der Vielfalt der Individuen, die in seinem Dienst stehen, und daraus, dass er ihnen gleich begegnet. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Menschen, die für den Staat arbeiten, auch die Diversität der Gesellschaft widerspiegeln. Sonst bedeutet Neutralität nicht weniger als die Dominanz der Gruppe, die als besonders „normal“ angesehenen wird. Jene Gruppe bringt auch „sichtbare“ Symbole mit, die sich in Kleidungsstücken, Einstellungen und Handlungen äußern.
Also versteht die Mehrheitsgesellschaft Neutralität falsch?
Wir gehen davon aus, dass Menschen ihre eigene Prägung ablegen können. Doch durch unsere Sozialisierung haben wir eine individuelle Perspektive auf die Welt, und aus dieser heraus handeln wir. Keiner von uns ist neutral: Ob wir nun religiös oder agnostisch sind, eine Position beziehen wir immer. Und das betrifft auch den sozioökonomischen Status als eine andere Form der Prägung. In England konnte eine Studie nachweisen, dass die Rechtsprechung bezüglich Mietschulden oft in Abhängigkeit dazu ausfällt, ob die Richter:in selbst Wohnungseigentum besitzt oder nicht. Sprich, die sozioökonomische Prägung von Richter:innen entscheidet mit. Dieser Zusammenhang wird gesellschaftlich nicht diskutiert. Wenn wir eine Kippa, ein Kopftuch oder einen Sikh-Turban sehen, fürchten wir aber, dass die Neutralität gefährdet ist. Auch in solch einer Haltung äußert sich antimuslimischer Rassismus.
Was ist antimuslimischer Rassismus?
In seiner extremen Form äußert sich antimuslimischer Rassismus in Terror wie in Hanau. Im Alltag erleben gerade Frauen mit Kopftuch häufig physische und verbale Übergriffe. Aber Rassismus äußert sich nicht erst dann, wenn Menschen aufgrund äußerlicher Marker angegriffen werden, er ist auch strukturell verankert. Antimuslimischer Rassismus ist es, wenn Kopftuch tragenden Frauen Eigenschaften zugeschrieben werden, jenen ohne Kopftuch nicht: Obrigkeitshörigkeit, Unterdrückung, Unmündigkeit, antidemokratische Anwandlungen. Antimuslimischer Rassismus ist es, Menschen aufgrund einer auch zugeschriebenen religiösen Zugehörigkeit anders zu behandeln, sie an ihrer gerechten Teilhabe zu hindern. Und das passiert systematisch, ist in unseren Strukturen verankert und geschieht ebenso intentional wie durch aktive Übergriffe.
Sollte das Neutralitätsgesetz abgeschafft werden, würden dann nicht bald auch Kruzifixe an Schulwänden hängen?
Das glaube ich nicht, davon sind wir in Berlin weit entfernt. Wir sollten aber auch zwischen religiösen Symbolen – wie dem Kruzifix oder einer Kreuzkette – und religiösen Geboten unterscheiden. Wenn eine Frau ein Kopftuch trägt, glaubt sie ein religiöses Gebot zu befolgen. Ob das nun sinnvoll oder richtig ist, sollte eine innerislamische Diskussion bleiben. Aber solange das Tragen des Kopftuchs Ausübung eines religiösen Gebotes ist, sollte es durch das Grundrecht der freien Religionsausübung geschützt sein. Man muss Religiosität nicht gut finden, aber man muss ein Maß an Toleranz und Akzeptanz dafür aufbringen können. Das kriegen wir hin in Berlin.
Was hilft dabei?
Gerade Jugendliche haben oft Berührungspunkte mit allen möglichen Berliner Communitys. Hier wäre niemand irritiert, wenn eine Frau mit Kopftuch nicht mehr nur die Schulflure putzt, sondern auch in den Klassenräumen lehrt.
Sie selbst haben 20 Jahre lang Kopftuch getragen, bevor Sie es ablegten. Nehmen Sie sich selbst als neutraler wahr?
Mein Kopftuch hat mich dazu verleitet, bewusst nichtreligiöser im öffentlichen Raum zu agieren. Ich habe mich mit Kopftuch deutlich mehr gezwungen gefühlt, möglichst neutral zu sein. Sobald ich in einen Raum kam, wurde ich als Kopftuchträgerin kategorisiert. Um Menschen zu beweisen, dass ich gängigen negativen Stereotypen nicht entspreche, die mit dem Kopftuch assoziiert werden, habe ich mich damals viel stärker an eine Norm angepasst, die zumindest als religiös neutral verstanden wird. So paradox es ist, für mich fühlt es sich so an: Seitdem ich das Kopftuch abgelegt habe, muss ich nicht mehr neutral auftreten.
Hatte es für Sie nur Vorteile, das Kopftuch abzulegen?
Nein. Was für mich vollkommen fremd war, ist die wahnsinnige Sexualisierung, die ich auf einmal erfuhr. Ich wurde gesehen. Als Frau! Vorher war ich ein sexuelles Neutrum. Mit dieser neuen Sichtbarkeit war ich anfangs überfordert, und das hat meinen Feminismus noch mal befeuert. Früher habe ich antimuslimische Übergriffe erlebt, jetzt werde ich als migrantisierte, muslimische Frau exotisiert. Und rückblickend zu spüren, mein ganzes bisheriges Leben der Teilhabe beraubt gewesen zu sein, ist ein Gefühl, das ich immer noch in mir trage. Das ist auch mein Land. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich habe mich immer als Teil dieser Gesellschaft gefühlt. Trotzdem wurde ich um meine Rechte gebracht. Ich durfte nicht sichtbar sein, weniger Erfolge feiern, mir wurde das Aufstreben erschwert. Diese Erfahrung treibt mich nun aber an, im Berliner Abgeordnetenhaus progressive Antidiskriminierungs- und Teilhabepolitik zu machen.
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