Atomdebatte und die Grünen: Richtige Prinzipien
Die Debatte über längere AKW-Laufzeiten ist zur Charakterfrage verkümmert. Dabei gibt es für die Grünen gute Gründe, am Atomausstieg festzuhalten.
D ie Debatte über längere AKW-Laufzeiten ist zur Charakterfrage verkümmert: Sind die Grünen mit ihren 42 Jahren erwachsen geworden oder hängen sie noch in der Spätpubertät fest? Springen sie über ihren Schatten oder klammern sie sich an ihren Spleen mit dem Atomausstieg? Das Abräumen der bisherigen Position wird dabei vielfach als Wert an sich verstanden. Nach Kriegsbeginn, Inflation und drohender Gasknappheit stehen die verbliebenen grünen Prinzipien unter Generalverdacht, mit der Realität nicht kompatibel zu sein.
Kehrt man von der Charakterfrage zurück auf die inhaltliche Ebene, ist die Sache weniger eindeutig. Der Nutzen längerer Laufzeiten ist überschaubar. Ihre Notwendigkeit ist nicht belegt; steigende Gasspeicherstände und unausgereizte Einsparpotenziale lassen an ihr zweifeln. Unbestreitbar nehmen aber die Sicherheitsrisiken mit jedem weiteren Tag am Netz zu. Die letzte große Überprüfung der Anlagen fand 2009 nach veralteten Regeln statt.
Der nächste Termin im Jahr 2019 wurde in Erwartung des Atomausstiegs ausgelassen. Längere Laufzeiten, wenn auch nur um Monate, gibt es nur bei einer weiteren Absenkung der ohnehin gesenkten Standards. Das kann man in der Abwägung richtig finden, weil – mit Ausnahme von Tschernobyl und Fukushima – ja noch immer alles gutgegangen ist. Man kann es aber auch gut begründet ablehnen: Ein Atomunfall hätte grausame Folgen.
Dass die Grünen mit solchen Abwägungen nicht mehr durchdringen, haben sie sich ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Zu lange haben sie sich darauf verlassen, dass das Thema vorbeizieht und darauf verzichtet, argumentativ hart dagegenzuhalten. Sie haben die Beharrlichkeit unterschätzt, mit der Union und FDP ihre Forderung vorantreiben, begleitet vom gewohnten Schweigen aus dem Kanzleramt.
Aus Sicht der politischen Konkurrenz sind die AKW ein Gewinnerthema: Wenn der Pragmatismus der letzten Monate der Grund für den grünen Höhenflug ist, sind aufgewärmte Ideologie-Vorwürfe das geeignetste Mittel, ihn zu beenden. Nebenbei verschieben sie den Diskurs weg von Tempolimit, Schuldenbremse und Steuern – den Themen, die zeigen, wo in der Koalition die wahren Betonköpfe sitzen.
Stimmen die Grünen längeren Laufzeiten zu, wäre das nicht nur in der Sache bedenklich. Auch strategisch wäre wenig gewonnen. Wenn sich der Ideologievorwurf nach LNG, Kohle und Sondervermögen hält, verschwindet er auch durch den Streckbetrieb nicht. Und so bleiben im Grunde nur zwei Optionen: Immer neue Positionen aufgeben, um dem Stigma des Dogmatismus zu entgehen, sich letztlich in der Koalition aber selbst zu verzwergen. Oder auch mal über den Anwürfen stehen, wenn sich alte Prinzipien noch immer als richtig erweisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
US-Präsidentschaftswahlen
Warum wählen sie Trump?
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod