Inflation und Energiekrise: Warten auf Sozialproteste

Die Preise steigen, Politiker rufen Menschen zum Energiesparen auf, gleichzeitig profitieren Konzerne von der Krise. Wo bleiben die Demos?

Protestierende im Gegenlicht schlagen auf Töpfen

Gründe, um auf die Straße zu gehen, gibt es gerade eigentlich genug Foto: Edgard Garrido/reuters

Die Preise für Lebensmittel und Energie steigen, Po­li­ti­ke­r:in­nen appellieren an die Sparsamkeit von Bür­ge­r:in­nen und warnen vor einem harten Winter, Städte bereiten für diesen schon Wärmehallen vor. Und immer wieder fragt jemand in einem sozialen Medium: Wo bleiben die sozialen Proteste? Wer organisiert sie?

An die Handlungsfähigkeit der parteiförmigen Linken glaubt schließlich nicht mal mehr sie selbst. Und auch ein großer Teil der außerparlamentarischen Linken beschäftigt sich lieber mit identitären Binnenkonflikten. Völlig verständlich ist es deshalb, dass die Fragenden ihre Frage um eine Sorge ergänzen: Wenn nicht Linke diese sozialen Proteste organisieren, dann organisieren sie womöglich Rechte! Aus gleichen Bedenken fragt der Deutschlandfunk den Soziologen Matthias Quent angesichts der sozialen Notlage: „Was braut sich denn da gerade zusammen?“ Der antwortet: „Es ist absehbar, dass sich hier eine neue Protestwelle zusammenbraut, die vor allem von rechts orchestriert wird.“

Der Blick, der erwartungsvoll progressiven Sozialprotest sucht, ist deshalb einerseits berechtigt. Die spanische Regierung hat gerade eine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne und Banken angekündigt, die von der Krise profitieren, um mit dem Geld Bür­ge­r:in­nen zu unterstützen, die durch diese Krise in soziale Not geraten. Und in Deutschland hält eine liberale Regierungspartei aus ideologischen und klientelistischen Gründen an der kategorischen Ablehnung von Steuererhöhungen fest, während ihr grüner Koalitionspartner Bür­ge­r:in­nen aufruft, weniger zu duschen, und darüber nachdenkt, bei Gasknappheit Unternehmen statt Menschen zu priorisieren.

Und der sozialdemokratische Bundeskanzler dieses Gruselkabinetts antwortet mit einem trockenen „Nö“, wenn er auf die grünen Energiespartipps angesprochen wird, und findet sich selbst dabei augenscheinlich auch noch lustig. Zu allem Überfluss feiern die Regierenden eine Luxushochzeit auf Sylt, deren Bilder als Beleg sozialer Ignoranz durch die Nation gehen. Wenn nicht jetzt auf die Straße, wann dann?

Vermeintliche Notwendigkeit

Andererseits zeugt das Warten auf Sozialproteste von einem eigenartigen veralteten Politikverständnis. Wenn es den Menschen nur schlecht genug geht, dann begehren sie schon auf, so die Annahme der Verelendungstheorie. Dazu gehört der altmarxistische, quasireligiöse Glaube an die unumgängliche historische Notwendigkeit einer sozialen Revolution, die wegen des sich zuspitzenden Antagonismus des Kapitalismus unausweichlich sei – weil Ar­bei­te­r:in­nen als historische Subjekte zuerst das notwendige revolutionäre Bewusstsein erlangen und dann Produktionsmittel und politische Macht an sich reißen würden.

Dass es nicht ganz so einfach ist, das hat die Geschichte gezeigt. Und sie hat auch gezeigt, dass es in ganz andere, unerfreuliche Richtungen gehen kann, wenn man sich auf vermeintliche historische Notwendigkeiten verlässt.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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