Wahlen in Sachsen und Thüringen: Jenseits jeglicher Realität

Die AfD ist in Regionen mit wenigen Flüchtlingen besonders stark. Auch die Angst vor dem Unbekannten treibt Leute in die Arme der Rechtsextremen.

AfD-Chef Höcke in Thüringen mit ausgestrecktem Zeigefinger

Er versucht, sich mit Tatsachenverdrehungen den Weg an die Macht zu bahnen: Björn Höcke nach der Landtagswahl in Thüringen Foto: Bodo Schackow/dpa

Die AfD kennt nur ein zentrales Thema: die „illegale Migration“, gern auch „Masseneinwanderung in unsere Sozialsysteme“ genannt. Man müsste also annehmen, dass die AfD dort die größten Erfolge feiert, wo die meisten Zuwanderer leben. Doch ist es genau andersherum. Die AfD ist vor allem in Landkreisen beliebt, wo die Deutschen weitgehend unter sich sind. Die jüngste Wahl in Thüringen ist ein schönes Beispiel: Im „Kyffhäuserkreis I“ kam die AfD auf stolze 46,5 Prozent.

Aber Ausländer gibt es dort fast keine – nämlich nur 5,6 Prozent. Ähnlich sieht es im Saale-Orla-Kreis aus, wo die AfD ebenfalls 44,6 und 47,4 Prozent erreichte. Auch dort leben nur 5,6 Prozent Ausländer. Umgekehrt kam die AfD in den Wahlkreisen „Jena I“ und „Jena II“ nur auf 16,4 und 19,3 Prozent – obwohl dort prozentual mehr als doppelt so viele Ausländer wohnen wie im Kyffhäuser oder an der Saale. „Illegale Migration“ scheint ihren Schrecken zu verlieren, sobald man die Einwanderer kennt und erlebt.

Die AfD erzeugt und bekämpft ein Phantom, aber das ist kein Trost. Denn diese Entkopplung von der Realität macht die AfD unangreifbar, weil sie Fakten einfach frei erfindet. Auch das war in der Wahlnacht gut zu beobachten – etwa beim Thema Wirtschaft. Die Unternehmen warnen vor der AfD, weil sie Einwanderer als Arbeitskräfte benötigen. Als die ARD danach fragte, behauptete der AfD-Spitzenkandidat in Sachsen, Jörg Urban, wahrheitswidrig, dass die Wirtschaftsverbände „staatlich finanziert“ seien.

Unterton: Da stecken die „Altparteien“ dahinter. Das Grundprinzip ist simpel: Die AfD ist immer Opfer. Wenn die Realität nicht zur eigenen Erzählung passt, dann muss jemand die Wirklichkeit manipuliert haben, um der AfD zu schaden. Das ist paranoid, funktioniert aber bestens bei vielen Wählern. Aber wer sind diese Wähler, die glauben, dass sie sich eine permanente Selbsttäuschung leisten können? Das Ergebnis ist erstaunlich: Es sind vor allem die Jungen, die von der Realität nichts wissen wollen.

Viel zu wenig Fachkräfte

In Thüringen haben 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen die AfD gewählt, und ähnliche Ergebnisse wurden in allen Kohorten bis zu den 59-Jährigen gezählt. Nur die Rentner sind deutlich skeptischer. Bei den über 70-Jährigen kam die AfD auf 19 Prozent. Die AfD hat also Zukunft. Deswegen stellt sich die Frage, was in Thüringen oder Sachsen passierte, sollte das rassistische Programm tatsächlich umgesetzt werden. Können die beiden Länder ohne neue Einwanderer auskommen?

Die AfD selbst stellt sich vor, dass sie erst einmal „die inländischen Personalressourcen mobilisieren“ will. Doch so viele Arbeitslose gibt es gar nicht. Im August waren es 68.843 in Thüringen, das entspricht einer Quote von 6,2 Prozent. Hinzu kommen 87.079 „Unterbeschäftigte“, also Menschen, die einen Job haben, aber gern mehr arbeiten würden. Selbst wenn jede Arbeitslose und Unterbeschäftigte vermittelt würde, könnte die Personallücke nicht gestopft werden.

Wie Studien errechnet haben, werden im Jahr 2035 bis zu 250.000 Fachkräfte in Thüringen fehlen, auch weil bis dahin etwa 385.000 ArbeitnehmerInnen in Rente gehen. Zunächst mag es harmlos klingen, dass in zehn Jahren „nur“ 250.000 Fachkräfte fehlen. Doch werden in ganz Thüringen im Jahr 2035 wohl nur noch 1,9 Millionen Menschen leben, von denen dann etwa ein Drittel in Rente ist. Auf dem Arbeitsmarkt wären also etwa 20 Prozent aller Jobs unbesetzt. Das kann gar nicht funktionieren.

Diese demografische Krise hat in Thüringen schon längst begonnen, wie sich an den Ausbildungsplätzen zeigt: Im August gab es noch 3.782 offene Lehrstellen, aber nur 1.083 Jugendliche, die bis dahin keinen Platz gefunden hatten. Seit 2016 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig angestellten Deutschen in Thüringen um knapp 43.000 geschrumpft – was nur durch Ausländer kompensiert werden konnte. Aus den EU-Staaten kamen etwa 20.000 Angestellte hinzu, aus Drittstaaten sogar über 23.000.

AfD würde zur Thüringen-Flucht führen

Es ist offensichtlich: Thüringen muss für jeden Flüchtling dankbar sein. Die AfD macht jedoch eine andere Rechnung auf. Sie suggeriert ihren Wählern, dass es nur deswegen Arbeitslose gäbe, weil ihnen Ausländer die Jobs wegschnappen würden. Das mag logisch klingen, ist aber Unsinn, wie erneut der Kyffhäuser zeigt. Dort liegt die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch – nämlich bei 8,2 Prozent.

Ausländer gibt es aber dort besonders wenig; wie schon erwähnt sind es nur 5,6 Prozent. Umgekehrt hat Jena einen Ausländeranteil von 12,6 Prozent, verzeichnet aber eine Arbeitslosigkeit von nur 6 Prozent. Erneut ist es genau andersherum, als die AfD behauptet: Wo wenig Jobs zu finden sind, gibt es auch kaum Ausländer. Denn natürlich zieht es die Zuwanderer in Gegenden, wo sie Geld verdienen können. Freiwillig geht niemand in den Kyffhäuser, um dort arbeitslos zu sein.

Von diesen Tatsachen lässt sich die AfD aber nicht erschüttern. Sie lebt in einer eigenen, faktenfreien Welt und wird unbeirrt Stimmung gegen Migranten machen. Das Resultat dürfte paradox sein: Nicht nur Einwanderer werden Thüringen meiden oder verlassen – sondern auch die Deutschen. Wenn Unternehmen, aber auch Krankenhäuser kollabieren, weil die Arbeitskräfte fehlen, werden viele Thüringer in Gegenden ziehen, wo die Infrastruktur besser ist.

Auch die Alten werden nicht in Thüringen bleiben. Pflegekräfte fehlen sowieso – und zudem sind ja die Kinder oft im Westen. Also zieht man hinterher. Das ist kein fernes Szenario, sondern passiert längst. Die AfD will die „Wende vollenden“. Was immer das heißen soll: Sollte sich die AfD durchsetzen, wäre Thüringen ein leeres Land, während viele Thüringer im Westen wohnen würden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.