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Kriege in der Ukraine und NahostSchmuddelbegriff Frieden

Kommentar von Charlotte Wiedemann

Der Krieg in der Ukraine wird mittlerweile als Dauerereignis hingenommen. Das macht es möglich, die Bilder aus Gaza in den Alltag zu integrieren.

Ostermarsch in Berlin 2024, die TeilnehmerInnen fordern einen Waffenstillstand in Gaza und der Ukraine Foto: Halil Sagirkaya/picture alliance

V on Deutschland aus will die Nato künftig Ziele tief in Russland erreichen können – dem dient die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen. Das Vorhaben geht auf die Zeit vor Putins Angriff auf die Ukraine zurück, doch eignet sich die russische Aggression nun natürlich gut zur Begründung. Wie herum man es auch betrachten mag: Russland wird auf die Nato-Pläne seinerseits reagieren, es gibt wieder einen Ost-West-Konflikt mit Aufrüstungsspirale.

Ein Déjá-vu ist das dennoch nicht. Im Vergleich zur Debatte über die sogenannte Nato-Nachrüstung im Westdeutschland der frühen 1980er Jahre fällt vor allem auf, was anders ist. Damals reichte eine gut informierte Gegenöffentlichkeit, im Bund mit der Friedensforschung, bis in die gesellschaftliche Mitte. Heute dominieren Ohnmachtsgefühle, Desorientierung, Defätismus. Und die stärkste Opposition im Land ist mittlerweile das rechte Ressentiment.

Frieden ist zu einem Schmuddelbegriff geworden, er wird assoziiert mit Russlandfahnen, rechtsoffenen Youtube-Kanälen und Gesängen grauhaariger Männer und Frauen. Und selbst jener Moment im Februar 2022, unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, als sich Hunderttausende in Berlin gegen Putins Aggression und gegen den Krieg als solchen versammelten, scheint bereits wie aus einer anderen Zeit – Zivilität und zivilgesellschaftliches Handeln waren noch nicht entwertet.

Seitdem aber: zwei unendlich lange Kriege, jener in der Ukraine und der in Gaza seit dem 7. Oktober. Sie sind bei aller Unterschiedlichkeit miteinander verkettet, einerseits durch die deutsche Unterstützung und andererseits durch das, was sie in uns anrichten: intellektuell, emotional, ethisch. Wie der Ukrainekrieg als Dauerereignis hingenommen wird, als Fototapete einer neuen Zeit, zeigt eine Abstumpfung, die es ihrerseits möglich macht, die Gräuelbilder aus Gaza zu ertragen, sie in den Alltag zu integrieren.

Schrei der Gepeinigten überhören

Die entgrenzte Kriegsführung im Nahen Osten wird wiederum Entgrenzungen auf anderen Schauplätzen nach sich ziehen. In der Welt „nach Gaza“ wissen alle potenziellen Kriegsakteure: Das massenhafte Töten humanitärer Helfer ist möglich. Das Bombardieren dicht besiedelter Gebiete ohne Fluchtoption ist möglich. Und es ist möglich, den Schrei der Gepeinigten zu überhören. So verhilft auch Gaza dazu, Kriegsführung künftig hinzunehmen.

In beiden Kriegen werden die westliche Freiheit und Zivilisation verteidigt. Das ist beim Ukrainekrieg die offizielle Position von EU und Nato, beim Gazakrieg die schrille Ansage des Netanjahu-Kabinetts, der die Bundesregierung nicht widerspricht. Die von Deutschland gelieferten Waffen sind folglich nicht Verursacher von Tod und Zerstörung, sondern Instrumente von Ethik und Moral.

Waffen als gut zu imaginieren, war von jeher ein Kern des Kriegsdenkens. Wie Militärgeistliche früherer Zeiten Panzer und Kanonen segneten, wirkt heute absurd. Aber ist der Segen, den die Staatsräson erteilte, davon so weit entfernt?

Mit der Parteinahme in einem Krieg geht ein kriegerischer Moralismus einher, ein bestimmter Blick nicht allein auf das Geschehen, sondern auf die darin verwickelten Menschen. Nachdem Putins Raketen die Kinderklinik in Kyjiw zerstörten, rühmte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser, binnen Tagen schwerkranke Kinder nach Deutschland evakuiert zu haben.

Schwerverletzte Kinder aus Gaza aufzunehmen, verhinderte sie über Monate wegen Sicherheitsbedenken. Kind und Kind sind nicht gleich, das Kriegsdenken macht sie zu Ungleichen.

Sprache der Kriegsertüchtigung

Dies alles sind keine Automatismen, sondern die Folgen von Entscheidungen. Man kann deshalb durchaus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen und zugleich die Militarisierung unserer Gesellschaft ablehnen, zwischen beidem besteht keine organische Verbindung. Im Gegenteil: Zu einer Zeit, in der die Demokratie in Deutschland von innen viel mehr gefährdet ist als von außen, gießt der neue Kult ums Militärische Öl ins Feuer.

Die Sprache der Kriegsertüchtigung ist Bestandteil eines anschwellenden Autoritarismus der Mitte, mit einem spezifisch deutschen Gesicht: NS-Jagdflieger versuchsweise wieder vorbildhaft zu finden, beißt sich nicht mit dem Ankauf eines israelischen Luftverteidigungssystems.

Eine vom Westen dominierte Weltordnung geht dem Ende zu, und kein Nato-Programm wird diesen Trend umkehren können. So wie sich auch die Spur gescheiterter Kriege und Militärmissionen nicht verwischt, von Irak über Afghanistan bis zum Sahel: misslungene Versuche des Westens, sich als Ordnungsmacht zu beweisen. Zurück blieben schlimmere Verwerfungen, denn für all diese Krisen galt, was friedensbewegte Berliner Israelis in Bezug auf Gaza jeden Freitag vor dem Auswärtigen Amt skandieren: „There is no military solution!“

Vielleicht ist dieser dünne, hilflose Ruf das Beste, Klügste, Vernünftigste, was gerade vorstellbar ist. Ein Anfang zumindest, um aus dem galoppierenden Irrsinn zu desertieren, aus dem Kriegsdenken und aus einer Blockkonfrontation – antirussisch heute, antichinesisch morgen –, die uns als unvermeidlich verkauft wird.

Zum geistigen Desertieren muss indes auch gehören, sich von einem falschen linken Campismus zu befreien, es gibt mehr als einen Imperialismus. Emanzipatorische Linke haben kein Lager, außer jenem, das sie entlang universeller Werte mit anderen konstruieren, als eine neue Art von dritter Welt.

Gewiss, die Weltverhältnisse sind so komplex, dass alles Begreifen den Ereignissen stets hinterherhechelt. Unsicher sein, sich keiner Seite zugehörig fühlen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern kann, sofern nicht von moralischer Indifferenz genährt, ein erster Schritt zur Stärke sein. Von jenen, die sich gefährlich sicher sind, gibt es bereits zu viele.

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41 Kommentare

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  • 100% Zustimmung. Gerade für Antifaschisten muss gelten: Unsere Hilfe gilt den vom Faschismus Angegriffenen. Die Ukraine wurde vom russischen Faschismus angegriffen, Israel vom Islamofaschismus. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

  • Die Reaktionen bestätigen sie Autorin zu 100%.

    Wir sind wieder dort, wo wir vor 35 Jahren waren. In einem Meer von Schuldzuweisungen.

    Nur das eins heute schlimmer ist. Der Umgangston ist schlimmer und die fronten sind verhärteter.

  • Schmuddelig wurde er weil tatsächlich putinfreunde und antisemitusche/anti-palästinensische gruppen Frieden als apeasement und Entschuldigung für Nichtstun missbrauchen

  • Hannes Heer, der Mitgestalter der ersten Version der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", nannte die aktuell sich Friedensbewegung nennenden Akteure auf einer Veranstaltung in Bremen 2022 "ziemlich verrottet."



    z.B. wenn das als "Forderung nach einem Waffenstillstand" überliefert wird, was als "die Angegriffenen sollen aufhören sich zu verteidigen" gemeint ist. Das wissen alle allerseits.

  • "Mit der Parteinahme in einem Krieg geht ein kriegerischer Moralismus einher, ein bestimmter Blick nicht allein auf das Geschehen, sondern auf die darin verwickelten Menschen." Wie immer: ein kluger, trefflich formulierter Kommentar von Frau Wiedemann.

  • Wer war das nochmal, der Raketen, welche auch Atomsprengköpfe tragen können, nach Kaliningrad verlegt hat?



    Ach stimmt, der Friedensfürst von der Moskwa, welcher die Einnahmen aus Gas- und Ölgeschäften mit dem Westen in Bildung, zukunftsfähige Technologien, eine prosperierende Wirtschaft und eine regelbasierte Zivilgesellschaft investiert hat. Er käme auch nie auf die Idee Theater, Krankenhäuser, Kindergärten, Kraftwerke, Einkaufszentren und Wohnhäuser, anderer Länder mit anderen Vorstellung von Zivilgesellschaft und Wirtschaftsordnung, zu bombardieren.



    Die Situation in Gaza und Israel dürfte sich heute auch anders darstellen, wenn weitsichtigere Politiker damals, unter amerikanischer Federführung, zu einer Vereinbarung gekommen wären. Erinnert sei auch daran, dass eine Vereinbarung zwischen Israel und Saudi-Arabien, als eine der letzten Staaten im Umfeld Israels unmittelbar bevorstand. Kritik an Israels Innenpolitik gab es, im In- wie Ausland ebenfalls.



    Ich kann in unserer Gesellschaft auch keine Kriegs- oder Aufrüstungslust erkennen, allenfalls die Einsicht, dass wenn wir schon eine Armee unterhalten, diese auch funktionsfähig sei sollte.

    • @2Cents more :

      Mein Kommentar bezieht sich auf Ihre Ausführungen zum Nahostkonflikt: die sich abzeichnende Annäherung Israels an Saudi-Arabien hat bei der Hamas alle Alarmglocken anschlagen lassen. Ein weiterer arabischer Staat, der seinen Frieden mit Israel macht, ohne eine politische Lösung für die Palästinenser*innen mitzuverhandeln... also: auch die Einschätzung, dass sich die Lage für die Hamas international schleichend verschlechtert, hat sie dazu bewogen, ultra-agressiv vorzugehen und mit dem terroristischen Angriff vom 07.10. Palästina von einem zu managenden Sicherheitsproblem zu einem wieder global verhandelten Thema zu machen.

    • @2Cents more :

      Ja, stimme zu. Aber bitte Vorsicht mit Ironie! Diese ist etwas aus der Mode gekommen und führt bei gewissen Leuten regelmäßig zu Irritation. Manche nehmen sogar den Postillion für bare Münze.

    • @2Cents more :

      "Erinnert sei auch daran, dass eine Vereinbarung zwischen Israel und Saudi-Arabien, als eine der letzten Staaten im Umfeld Israels unmittelbar bevorstand."



      Eine Vereinbarung zwischen Israel und Saudi-Arabien dient gegenseitigen Geschäftsinteressen, hat aber mit einem regionalen Frieden nichts zu tun. Die Palästinenser wären dabei nur noch mehr unter die Räder gekommen.

    • @2Cents more :

      Das war doch die fortgeschriebene Idee des "Wandels durch Handel" die Merkel, obwohl sie sicher ahnen konnte wie Putin tickt weitergeführt hat.



      Beim Ursprung ging es ja um eine Annäherung, dass man über Machtblöcke hinweg miteinander redet und Handel treibt.

      Egon Bahr hat das selbst so beschrieben:



      „Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpaßt.“

      Die Idee dahinter war ja nie die eigene Position zu schwächen und sich wehrlos zu geben oder sich einer Bedrohung zu beugen.

  • „Frieden“ ist ein Propagandabegriff der Haupt-Kriegsverbrecher Putin und Hamas geworden. Und viel zu viele im Westen gehen ihnen auf den Leim. Genau das ist der Grund, warum wir es in den Alltag integrieren: Weil wir den ewigen Austausch der immer gleichen Argumente nicht ertragen. Es hört ja einfach nicht auf und es sind immer die gleichen, die mit den immer gleichen Argumenten ihre immer gleiche Meinung anbringen.



    Ich bleibe auch bei meiner Meinung: Wenn Putin und die Hamas gewinnen, ist das im Schnitt für alle schlechter. Natürlich braucht Israel eine neue Regierung ohne Rechtsextreme, natürlich ist die Ukraine auch bei einem Sieg nicht sofort als EU-Mitglied geeignet, natürlich gehört die AgD verboten, natürlich brauchen wir eine sozialere und zukunftsorientierte Politik, doch gerade laufen wir Gefahr, das alles liegen zu lassen und trotzdem vor Steinzeit-Gesellschaftspolitik aus der Hölle einzuknicken!

  • "In der Welt „nach Gaza“ wissen alle potenziellen Kriegsakteure: Das massenhafte Töten humanitärer Helfer ist möglich. Das Bombardieren dicht besiedelter Gebiete ohne Fluchtoption ist möglich. Und es ist möglich, den Schrei der Gepeinigten zu überhören." In dieser Welt nach Gaza verfestigt sich auch immer mehr der Eindruck, dass die westlichen Länder glauben über den internationalen Gesetzen zu stehen (das fing spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak an), glauben das nur weil man eine Demokratie ist scheinbar keine Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen kann und selbst wenn, dass man dann nicht dafür gerade stehen muss. Wie sagte doch ein amerikanischer Politiker zu Karim Khan,Chefankläger des ICC, sowas wie der ICC ist für Afrikaner oder für Typen wie Putin da. Kein Wunder, dass immer mehr Rechtsexperten kritisieren das man von rules-based order spricht statt von universalgültigen internationalen Gesetzen, Regel die man sich zurecht legt wie man sie gerade braucht.



    Wir wollen immer das andere unsere "Werte" vertreten, aber wenn man an der Oberfläche kratzt schaffen wir es nicht mal unsere eigenen Werte zu leben.

    • @Momo Bar:

      Das Problem ist dass die Zahl derer, die den Westen in die Tonne treten wollen, stetig zunimmt. Unsere einzige ständige Antwort darauf ist der erhobene Zeigefinger, den wir uns selbst ja nicht mehr abnehmen. Gepaart mit Geschäften, die denen Chinas im globalen Süden an Eigennützigkeit in nichts nachstehen.



      Wir haben das bessere politische System. Wir behalten es aber für uns. Der Rest bekommt eine harte, arrogante Fratze gezeigt.

    • @Momo Bar:

      Das wussten "alle potentiellen Kriegsakteure" auch schon vorher.

      "Die westliche Welt" führt in Gaza keinen Krieg.

      Ein westasiatischer Staat mit einer rechten Regierung und ein extremistisches Terrorregime bekriegen sich.

      Werte sind Ideale. In Gänze gelebt wurden Werte noch nie.



      Im Westen nicht, im Osten nicht, im Süden nicht.

      Wird sich demnächst wohl nicht ändern.

    • @Momo Bar:

      Natürlich können wir unsere Werte leben. Wenn das Volk "heil Dieselmotor" brüllt, machen fast alle mit.



      (Oh shit. Gerade habe ich noch vor Ironie gewarnt. Jetzt mache ich es auch.)

  • Frieden zum Schmuddelbegriff haben die gemacht, die von Frieden reden und de facto Unterwerfung unter ein autokratisches Regime meinen. Und die Hilfe zur Selbstverteidigung als Kriegstreiberei diffamieren.

  • "Die Sprache der Kriegsertüchtigung ist Bestandteil eines anschwellenden Autoritarismus der Mitte [...]



    Zum geistigen Desertieren muss indes auch gehören, sich von einem falschen linken Campismus zu befreien."

    Völlige Zustimmung. Solche aufklärerischen Stimmen sind leider selten geworden.

    Auch möchte ich @O.F. zustimmen, dass eine Ethik der Koexistenz eine Ethik der Differenz sein muss.

    Eine Unterscheidung zwischen den beiden genannten Konflikten möchte ich aber doch aufmachen.

    Beim Ukraine-Konflikt, sofern er ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland ist, handelt es sich um Politikversagen von beiden Seiten, um Krieg als Ergebnis von imperialistischer Mächtekonkurrenz, um einen "conflict between wrong and wrong".

    Der Nahostkonflikt dagegen ist älter, in gewisser Weise festgefahrener und vielschichtiger. In seinen Anfängen kein imperialistischer, sondern ein post-imperialistischer Konflikt, ein wirklich tragischer "conflict between right and right".

    Auch wenn ich die berechtigten Interessen beider Seiten anerkennen kann, fällt es mir als Deutschem schwer, hier nicht primär auf der Seite der Shoah-Überlebenden und ihrer Nachfahren zu stehen.

    • @Kohlrabi:

      Sie blenden in Ihrer Darstellung zum Krieg in der Ukraine genau das aus, was eigentlich das Wichtigste sein sollte: Die Menschen die dort leben. Sie dürfen seit mehr als drei Dekaden wählen, wie sie leben und wohin sie gehören wollen.

      Tendenziell haben sie sich immer mehr in Richtung EU und NATO orientiert. Dafür brauchten sie keine "Agenten westlicher Imperialisten", sondern lediglich einen vergleichenden Blick: Wie geht es den Menschen im Nachbarland Polen im Vergleich zu denen in Moskau-fernen russischen Provinzen? Wie geht es Finnland oder Estland im Vergleich zum Vasallenstaat Belarus?



      Eigentlich ist eher das Gegenteil von "westlichem Imperialismus" passiert. Man wollte lieber billiges russisches Gas als die Ukraine in der EU haben (danke, Frau Merkel!).

      Die Entscheidung fiel wohl mehrheitlich recht deutlich aus. Wie sonst lässt sich der erbitterte und bisher auch erfolgreiche Widerstand gegen den Überfall eines übermächtigen Gegners erklären? Und wer oder was ist hier "wrong"?

      Die Behauptung, es gäbe "westliche imperialistische Interessen" in der Ukraine entspricht 1:1 denn Narrativen der russischen Propaganda.

    • @Kohlrabi:

      Bei dem Krieg Russlands gegen die Ukraine handelt es sich nicht um einen "Konflikt", sondern um einen von Russland selbst nicht einmal geleugneten Eroberungsfeldzug. Von einem Konflikt spricht man dagegen üblicherweise, wenn sich widerstreitende, aber gleichermaßen berechtigte Interessen gegenüberstehen. Wer hier von Konflikt redet, legitimiert den russischen Überfall. Wenn vier Leute Sie verprügeln, um Ihre Brieftasche zu rauben, ist das kein Konflikt, sondern ein Raubüberfall.

      • @PeterArt:

        Richtig! Das heißt nicht "Konflikt", sondern "Spezialoperation".

        Der Begriff "Spezialoperation" ist weit gefasst. Also auch nicht falsch für einen Raubüberfall...

    • @Kohlrabi:

      Die Ukraine-Invasionen I wie II waren die klarsten Angriffskriegsfälle dieses Jahrhunderts.



      Man muss das ukrainische Establishment nicht abknutschen, um den Bruch allen Völkerrechts sofort festzustellen. Was genau sahen Sie da nicht?

      Welches Recht hatte jemand, die durch Deutsche verfolgten Juden auf Kosten der Palästinenser zu kompensieren?



      Welches Recht das neue Land, seine Grenzen mit Militär, Vertreibungen und Siedlungen dermaßen auszuwalzen?



      Und kann man nicht verständlich ein wenig mehr für Juden sein, ohne gleich dem israelischen Staat Willkür zuzugestehen? Israelisch und jüdisch sind übrigens zwei verschiedene Sachen.

      • @Janix:

        Sehr schön, danke für den Kommentar. Die Glaubwürdigkeit Deutschlands leidet immer darunter, Begehren auf Kosten anderer zu stillen und Schuld auf Kosten Dritter zu kompensieren. Eigentlich *immer*, ohne die betroffene Bevölkerung (früh oder vorher) mit einzubeziehen. Das schafft die unlösbaren Probleme. Ob es nun Öl und Gas sind, Rohstoffe oder extreme Verbrechen. Eins ist dieses Vorgehen:



        Absolut kostenoptimiert.

      • @Janix:

        Ich sehe schon: Wir sind uns oft einig.

        Nur wer gegen Juden ist, ist Antisemit. Wer gegen die Regierung Israels ist, ist es nicht. Und wer gegen den Staat Israel ist, ist auch keiner.

        Das sage nicht ich, sondern ein Professor für Antisemitismusforschung an der Universität von Jerusalem (Name leider gerade nicht parat). Also einer, der es wissen muss.

        • @Jörg Schubert:

          Dem möchte ich noch etwas hinzufügen:

          Wer gegen Israel aufhetzen möchte, schürt oft Antisemitismus.

          Umgekehrt passiert es auch: Äußert man sich gegen sie Politik Israels, wird sofort Antisemitismus unterstellt.

          Ich schlage vor, dass wir in Deutschland uns da raus halten. Egal was wir sagen - es wird absichtlich missverstanden.

      • @Janix:

        1.) Bruch des Völkerrechts. Sicher. Aber wer hat's nach 1991 zuerst getan? Russland kopiert den Westen. Neu sind Ausmaß und Opferzahlen, von beiden Seiten anfangs gewiss nicht so gewollt. Grundfehler war, der in sich heterogenen Ukraine eine einseitige Entscheidung zur West- oder Ostbindung aufzuzwingen.

        2.) Ich gestehe dem israelischen Staat keine Willkür zu. Wie kommen Sie darauf? Ich sehe nur folgenden Unterschied: Egal wo eine russisch-ukrainische Grenze verläuft, es werden dort immer Russen und Ukrainer leben, verwandt und verschwägert. - Egal bis wohin israelisches Militär stationiert ist, es werden am östlichen Mittelmeer immer Araber leben. - Wenn aber Israel nur 100 Kilometer preisgibt, so werden fortan in der Region keine Juden mehr leben können.

        Das ist m.E. der entscheidende Unterschied, und im Zusammenhang mit der Shoah sehe ich damit eine prinzipielle Parteinahme für Israel als begründet. - Aber ich respektiere andere Ansichten, solange sie nicht fanatisch daherkommen.

  • Und das ist das große, offenbar unausrottbare Missverständnis:



    "Man kann deshalb durchaus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen und zugleich die Militarisierung unserer Gesellschaft ablehnen, zwischen beidem besteht keine organische Verbindung."



    Die Unterstützung der Ukraine ist kein reiner Selbstzweck, sondern dient auch der Abschreckung Russlands in Richtung Nato. Sollte Russland die Ukraine besiegen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es dann auch Nato-Gebiet angreift. Diese Drohung ist von Putin&Co. auch immer wieder ausgesprochen worden (Die baltischen Staaten haben keine volle Souveränität, sind "unsere Provinzen" u.s.w.).



    Damit eng verbunden ist das, was hier als "Militarisierung unserer Gesellschaft" bezeichnet wird. Davon sehe und spüre ich wirklich nichts. Außer, das etwas mehr, aber lange nicht genug Geld in eine vielleicht auch irgendwann mal abwehrfähige Bundeswehr gesteckt wird.



    Hinter dem Zitat scheint immer noch das Narrativ zu stecken, dass der eigentliche Aggressor die Nato ist, wogegen sich Putin nur verteidigt.

  • Na schön, dann sollte logischerweise, im Namen des so arg in Verruf geratenen Friedens, die Unterstützung für die Ukraine auf der Stelle wegfallen und im Idealfall fügt sich das Land einfach dem ihm von Russland zugedachten Schicksal.

    Und der schlimmste aller Kriege, den die Welt je gesehen hat, ja die Blaupause für kommende Verbrechen, muss sofort beendet werden. Die Hamas kommt dann davon, aber hey, alles hat seinen Preis. Vielleicht kann Israel dann irgendwann in die Liga der friedlichen Länder zurückkehren.

    Dann, dann herrscht endlich wieder in Deutschland.

    • @Jim Hawkins:

      Fehlt ein Wort im letzten Satz?

  • Ein sehr interessanter Artikel, der sich gut einer komplexen Thematik annimmt!

    "Emanzipatorische Linke haben kein Lager, außer jenem, das sie entlang universeller Werte mit anderen konstruieren, als eine neue Art von dritter Welt."

    Leider gibt es davon kaum welche was ja auch eindrucksvoll oft die Kommentare in der Kommune zeigen.

  • Nicht nur "Frieden" ist zum Schmuddelbegriff geworden, sondern auch "Freiheit". Das liegt an den Leuten, die diese Begriffe besonders laut für sich beanspruchen und wie sie sie interpretieren.

    Wenn mit "Frieden" damit erkauft werden soll, ein ganzes Land gegen billiges Gas und Öl zu verschachern, wird er nun mal zum Schmuddelwort.

    Wenn "Freiheit" bedeutet, sich zu nehmen, was man kann, ohne Rücksicht auf heutige oder zukünftigen Menschen, ohne Rücksicht auf Natur, Umwelt und Klima, dann bleibt von "Freiheit" nur auch nur noch Schmuddel.

    Interpretiert man sowohl "Frieden" als auch "Freiheit" als Recht des Stärkeren, verliert sich ihr Wert. Langfristig führt das zu ihrem Verschwinden.

    Jetzt sehen wir uns doch mal um: Wer fordert besonders laut die oben beschriebene Art von Frieden? Wer fordert besonders laut, dass Sozialleistungen gekürzt, der Benzinmotor erhalten und alles "Klimagedöns" abgeschafft werden müsse?

    Und - ganz wichtig - wer tut so etwas nicht?

  • Sehr guter Text, den besonders die Grünen PolitikerInnen sehr nötig haben.

  • Schon jetzt wissen die meisten Leute doch gar nicht, dass im Sudan ein grauenhafter Konflikt mit Millionen Toten wütet. Übrigens auch in der islamischen Welt, obwohl die Opfer wie in Gaza hauptsächlich Muslime sind.



    Die Täter allerdings auch.

    • @Suryo:

      Was nicht nur beschämendes Desinteresse ist, sondern dieser Krieg von den anderen "Großkonflikten" in den Medien überlagert. Da stehen eben keine primären Interessen der politischen Großakteure auf dem Spiel.



      Allerdings versuchen auch hier die USA zu vermitteln. Dafür scheinen sie immer willkommen, wenn man es selbst vor Ort wieder einmal nicht hinbekommt. Mehr dazu hier:



      www.tagesanzeiger....frika-301011931882

      • @Vigoleis:

        Für Palästina interessiert sich die gesamte islamische Welt sowie natürlich zahllose Propalästinenser in Europa und den USA.

        Für den Genozid Chinas an den muslimischen Uighuren oder des myanmarischen Regimes an den muslimischen Rohingya interessiert sich dagegen höchstens der ach so "heuchlerische" Westen. Oder kennen sie Boykottaufrufe Chinas aus der islamischen Welt?

  • Das „Frieden“ von Rechten/Putinist:innen vereinnahmt wurde hat sich die Friedensbewegung leider weitgehend selbst zuzuschreiben, die Querfront seit den Montagsmahnwachen 2014 hat immer mehr Raum eingenommen, alte Dogmen wurden nie hinterfragt...ein Trauerspiel. Eine Blockkonfrontation vermeiden müssten auch die Bevölkerungen der eskalierenden, russischen und chinesischen Diktaturen... das wird mit undifferenziertem "alle Seiten" und "Hauptfeind im eigenen Land" nicht zu machen sein, sondern mit Unterstützung der Opposition dort. Wer solche Zustände nicht will hat durchaus ein Lager, nämlich das der Demokratie und der Menschenrechte, die einander bedingen und nach außen wie nach innen verteidigt werden müssen. Also auch die Rechte palästinensicher Nichtkombattant:innen auf Unversehrtheit und die ukrainischer Kriegsdienstverweigerer. Trotzdem bleibt die grundsätzliche Unterstützung der Ukraine gegen russischen Faschismus, und Israels gegen Iran und Hamas richtig, sie müsste aber mit mehr Bedingungen versehen werden.

  • "Sie sind bei aller Unterschiedlichkeit miteinander verkettet, einerseits durch die deutsche Unterstützung und andererseits durch das, was sie in uns anrichten: intellektuell, emotional, ethisch."

    Sie sind auch verkettet durch die gleichen Gegner: Russland, der Iran, China und Nordkorea sind in beide Konflikte involviert.

    "In der Welt „nach Gaza“ wissen alle potenziellen Kriegsakteure: Das massenhafte Töten humanitärer Helfer ist möglich. Das Bombardieren dicht besiedelter Gebiete ohne Fluchtoption ist möglich."

    Als hätte es die Fassbomben- und Giftgasorgien des Regimes von Bashar Al-Assad nie gegeben. Offensichtlich wird hier die Kriegsführung der Baathisten, in Syrien, auf Israel projiziert.

  • Si vis pacem para bellum. So einfach ist das.

  • Die Artikel von Wiedeman sind jedes Mal beeindruckend und wenn ich mir einen kritischen Einwand erlaube, dann vor allem deshalb, weil ihre Argumente eine ernste Diskussion verdienen: Ich teile die meisten der vorgebrachten Punkte, bin aber am Ende über den Anspruch auf universale Werte gestolpert. Man kann bezweifeln, dass es einen solchen moralischen Konsens jemals gab, auch wenn es in Zeiten ungebrochener westlicher Hegemonie leichter war, ihn zu erzwingen (oder auch nur die eigenen Machtinteressen in entsprechende moralische Windeln zu wickeln). In einer multipolaren Welt wird das schwieriger: wer definiert denn diese Werte – afghanische Taliban und chinesische Kommunisten dürften ja von ihren eigenen Geltungsansprüchen nicht weniger überzeugt sein als westliche Liberale. Die Djihadisten jeglicher – auch liberaler – Colour mögen das nicht gerne hören, aber eine Ethik der Koexistenz kann und muss auch eine Ethik der Differenz sein, die keine universalen Werte einfordert, sondern Verschiedenes nebeneinander bestehen lässt. Die Antworten auf die Krise unserer Zeit dürften eher bei Herder als bei Kant zu finden sein.

    • @O.F.:

      Dass Sie den universalen Werten - und damit en passant auch den Menschenrechten - eine Absage erteilen und stramm ins Horn des Kulturrelativismus blasen, muss einen nun nicht wirklich überraschen.

      Interessanter fand ich schon, dass Sie nun Ihrerseits bei Carl Schmitt gelandet sind ("Wer Menschheit sagt, will betrügen"), einschließlich seiner notorischen Verachtung des Liberalismus. Konsequent dann natürlich auch die Berufung auf Herder, dessen geistiges Erbe - von diesem sicherlich so nicht gewollt - zunächst von den Nationalisten und Völkischen und heute von den Identitätspolitikern und Ethnopluralisten gekapert worden ist.

  • "Russland wird auf die Nato-Pläne seinerseits reagieren ..."

    Die NATO reagiert auf Aufkündigung von Verträgen und Stationierung von russichen Waffen z.B. Atomwaffen in Belarus. Da wird gerne was verwechselt.

    Und der Krieg in Gaza könnte heute zu Ende sein wenn die Hamas und Iran es wollten.

    Das NATO-Westen-Blame-Game verfängt nicht mehr.

  • Universal denken, auf Frieden letztlich abzielen und nicht die vielen Menschen dämonisieren, hilft.



    Gegen gewaltsame Besetzung fremden Territoriums aufzutreten, universal, nicht selektiv, hilft auch. Das kann auch heißen, auf die Zurückerlangung des Status Quo hin zu unterstützen.



    Es ist schwer und widersprüchlich, doch mir fiel noch nichts Besseres ein.