Eine Person mit Palestinensertuch steht vor einer Menschenmenge und reckt die Faust

Pro-palästinensische Ak­ti­vis­t:in­nen protestieren am 22. April auf dem Campus der Columbia Universität Foto: John Angelillo/upi/imago

Proteste gegen Gaza-Krieg an US-Unis:Der Campus als Kampfzone

Zeltlager, Polizeieinsätze, antisemitische Sprüche: Die Gazakrieg-Proteste spalten die US-Universitäten. Ein Besuch an der Columbia in New York.

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26.4.2024, 19:58  Uhr

Die Aufgeregtheit setzt weit vor den Toren der Columbia-Universität ein. Eigentlich schon in der U-Bahn, Linie Nummer 1. An der Station an der 116. Straße in Manhattan sieht man immer wieder junge Menschen mit schwarz-weißer Kufija aussteigen und sich ihren Weg Richtung Protestlager bahnen. Vorbei an den Kameras, vorbei an den vielen Po­li­zis­t:in­nen und vorbei an einem schwarz vermummten Mann, der hier an der Straßenecke seit Tagen ausharrt. Auf seinem Plakat ist ein Davidstern aufgemalt. Die Wörter „Lügen“, „Betrügen“, „Stehlen“ und „Töten“ stehen jeweils in einer Ecke des Posters. Pfeile zeigen von ihnen auf den Davidstern. „Israel“ ist in die Mitte des Sterns geschrieben.

Die Reaktion Israels auf die Massaker der Hamas am 7. Oktober und der Krieg in Gaza treiben die US-amerikanischen Universitäten seit Monaten um. Immer wieder gab es Demos und Störaktionen von propalästinensischen Ak­ti­vis­t:in­nen auf Uni-Plätzen und in Vorlesungen, jüdische Studierende berichteten von antisemitischen Anfeindungen und Hate Speech. In den vergangenen zwei Wochen hat sich die Situation aber noch einmal stark zugespitzt.

Am Mittwoch vor einer Woche errichteten Studierende der Columbia-Universität, die zur Ivy League der altehrwürdigen US-Elite-Unis gehört, ein Zeltlager für Palästina-Solidarität auf dem Campus. Die De­mons­tran­t:in­nen forderten unter anderem den Abbruch finanzieller Verbindungen der Universität zu Israel. Die Columbia-Universität hat ein Stiftungsvermögen von mehr als 14 Milliarden US-Dollar, das sie auch gewinnbringend anlegt.

Die Protestierenden forderten ein Ende der Zusammenarbeit der Columbia mit Unternehmen, die die israelische Kriegsführung in Gaza unterstützen – auch akademische Beziehungen mit der Universität in Tel Aviv sollten beendet werden, solange diese nicht palästinensische Studierende aus dem Westjordanland und Gaza annehme.

Am Tag nach der Errichtung des Camps schickte Uni-Präsidentin Minouche Shafik die Polizei aufs Universitätsgelände, um das Zeltlager zu räumen. Die Cops verhafteten mehr als 100 Demonstrant:innen, darunter auch progressive Jüdinnen und Juden, die dort mitprotestierten.

Kurze Zeit später bauten die Studierenden die Zeltstadt wieder auf – dieses Mal auf der gegenüberliegenden Rasenseite.

An der Columbia zeigt sich ein Dilemma, vor dem Universitäten im ganzen Land stehen. Sie müssen entscheiden, was Vorrang hat: Recht und Ordnung und das Bedürfnis vieler Studierender, sich auf dem Campus sicher und frei von verbalen Attacken und Störaktionen zu bewegen. Oder der Drang anderer Studierender, ihre politische Meinung frei zu äußern und gegen das menschliche Leid in Gaza zu protestieren. Gleichzeitig häufen sich Berichte über Vandalismus, antisemitische Übergriffe und Belästigungen von jüdischen Studierenden.

Auch an der Yale-Universität in New Haven und an der New-York-Universität im unteren Teil Manhattans gab es bei Protesten in den vergangenen Tagen Polizeieinsätze und Verhaftungen. Am Montag wurde der Unterricht an der Columbia nur online abgehalten, dann auf Hybrid umgestellt – eine Alternative für Studierende, die sich auf dem Campus nicht sicher fühlen.

Der Rabbiner Elie Buechler schrieb in einem Brief an seine jüdischen Studierenden: „Es schmerzt mich zutiefst, Ihnen sagen zu müssen, dass ich Ihnen dringend empfehle, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren und dort zu bleiben, bis sich die Lage auf dem Campus und in der Umgebung dramatisch verbessert hat.“

Kurz darauf widersprach die jüdische Studierendenorganisation Hillel der Warnung von Elie Bluechler, dass jüdische Studierende auf dem Columbia-Campus nicht sicher seien.

Vor den streng bewachten Gittertoren der Universität stehen in diesen Tagen oft Dutzende Reporter:innen. Für die Presse gelten zurzeit streng kontrollierte „Besuchszeiten“.

Politische Spielbälle

Am Mittwoch scheint die Sonne, auf dem Campus wuseln Studierende zwischen der Zeltwiese und den Bibliotheken mit ihren korinthischen Säulen umher. Sie verteilen Reis, Falafel und Teigtaschen mit Spinat. Es wird gequatscht und gelacht, Palästina-Fahnen flattern im Wind. An diesem Nachmittag erinnert das neu errichtete Zeltlager eher an ein Hippiefestival. Wie eine Brutstätte des Extremismus wirkt es erst einmal nicht.

Greg Khalil sitzt vor dem „Pulitzer-Gebäude“ der Journalismusschule der Universität und spricht in kompakten, makellos geschliffenen Sätzen. Khalil trägt einen grauen Bart und besitzt ein einnehmendes Wesen. Er ist Lehrbeauftragter der Fakultät, als einer der wenigen Dozierenden der Columbia-Universität hat er palästinensische Wurzeln. Seine Verwandten leben in der Nähe von Bethlehem.

Khalils Erzählung beginnt mit den Worten: „There is a much bigger story.“ – Es gibt eine viel größere Geschichte. Die Universität hätte in ihrer Verantwortung als Bildungsinstitution versagt: darin, eine Plattform für die Studierenden zu schaffen, wo sie schwierige Gespräche führen und Gegensätze aushalten können, sagt Khalil. „Wo, wenn nicht hier?“

Eine Frau mit Palestinensertuch rangelt mit einem Polizisten

Eine Protestierende wird von der Polizei vom Campus abgeführt Foto: Mark Peterson/Redux/laif

Bis zum 7. Oktober wollte man gar nicht über den Nahost-Konflikt sprechen, weil das Thema als „zu kontrovers“ angesehen wurde. Nach dem Massaker der Hamas sei man nur bereit gewesen, über Antisemitismus zu sprechen – ohne Menschenrechte für alle anzusprechen. „In welcher Gesellschaft werden wir leben, wenn wir unfähig sind, Journalisten dazu auszubilden, Fakten, unterschiedliche Narrative und Geschichten zu sehen?“, sagt Khalil.

Uni-Präsidentin Minouche Shafik interessiere weder die Sicherheit ihrer jüdischen noch ihrer palästinensischen Studierenden, die ebenfalls unter Angriffen litten, sagt Khalil. Statt diese zu beschützen, gehe es ihr darum, die Geldgeber der Universität zu befrieden – was den Antisemitismusvorwurf zum politischen Spielball mache. Wenn eine Universität die politischen Forderungen ihrer Geldgeber berücksichtigen müsse, stehe ihre akademische Unabhängigkeit auf dem Spiel.

Khalil deutet auf die Treppen vor der großen Bibliothek. Eine Menschenmasse hat sich dort versammelt, der Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Mike Johnson, ein trumpnaher Republikaner, hält dort gerade unter Buhrufen eine Rede.

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„Nahrung für Antisemiten“

Im Januar nahm Khalil auf eben jenen Treppen zum ersten Mal einen gemeinsamen Protest mit israelischen und palästinensischen Fahnen zur Kenntnis: ein ungewöhnlicher Anblick, er war beeindruckt.

Kurze Zeit darauf verschwanden die Demonstrant:innen. Später erfuhr er, dass man sie mit Skunk angegriffen haben soll Skunk ist ein nichttödliches, aber stark übel riechendes und häufig von der israelischen Armee gegen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen eingesetztes Kampfmittel.

15 Studierende mussten daraufhin im Krankenhaus behandelt werden. Die Uni-Leitung setzte alles daran, den Angriff auf die „unangemeldete propalästinensische Demonstration“ herunterzuspielen, ohne die israelischen Fahnen der Protestierenden auch nur zu erwähnen.

„Und jetzt denken wir das Ganze mal umgekehrt“, sagt Khalil. „Wenn das proisraelische Studierende gewesen wären, würden wir bis heute jeden Tag über diesen Angriff sprechen.“ Die attackierten Studierenden sagten aus, dass die Angreifer zwei israelische Studenten der Universität gewesen wären, die früher in der israelischen Armee gedient hätten.

Der Fall werde untersucht, hieß es dazu von der Uni-Verwaltung.

Khalil bezeichnet sich selbst als Antizionist. Aber er sagt, er wolle den Antisemitismus nicht unter den Tisch kehren, im Gegenteil. Er wolle ihn bekämpfen – er warnt aber auch, dass das Verhalten der Universität gegenüber den Protestierenden gerade „Nahrung für Antisemiten“ sei, die sich darin bestätigt fühlten, dass Juden überproportionale Macht hätten und Medien kontrollieren würden.

In den Protesten sieht Khalil eine Chance, er beobachtet neue Allianzen zwischen jüdischen und arabischen Studierenden, Zusammenarbeit und Solidarität. „Ich weiß, dass diese Protestierenden nicht immer die richtige Sprache verwenden und Fehler machen. Aber ich bin stolz auf diese jungen Menschen. Das sind die klügsten Köpfe Amerikas – und sie kämpfen für Gerechtigkeit.“

Auf der Zeltwiese: Gedanken zu Antisemitismus

Die Columbia-Universität blickt auf eine lange Protestgeschichte zurück, die auch zentraler Teil ihres Selbstverständnisses ist. 1968 besetzten De­mons­tran­t:in­nen aus Protest gegen den Vietnamkrieg fünf Universitätsgebäude, sie nahmen einen Dekan als Geisel und brachten den Universitätsbetrieb zum Stillstand. Eine Woche nach Beginn der Besetzung stürmte die Polizei die Gebäude. 700 Studierende wurden festgenommen, 148 wurden von der Polizei verletzt.

Der Präsident der Universität musste daraufhin zurücktreten. Der Ruf der Uni litt und diese reagierte darauf mit Reformen, die Freiräume für Aktivismus der Studierenden sicher stellen sollte. Der Druck auf die jetzige Uni-Präsidentin Shafik ist auch deshalb so hoch. Und er wächst weiter von allen Seiten. Radikalere Stimmen, die im US-Wahlkampf Stimmung machen wollen, gießen von außen Öl ins Feuer.

Wenige Meter von Greg Khalil entfernt ist die Stimmung aufgeheizt. „Mike, du nervst!“, ruft jemand. Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses Mike Johnson fordert die Präsidentin da gerade vor versammelter Menge dazu auf, zurückzutreten, wenn sie unfähig sei, „das Chaos unter Kontrolle zu bringen“. Er kündigt an, Präsident Joe Biden aufzufordern, Maßnahmen zu ergreifen. Eine israelische Doktorandin ist gekommen, um Johnsons Rede zu hören. Wenn schon die Universität sie vor „denen da“ in ihren Zelten nicht beschütze, hoffe sie zumindest auf Hilfe vom Kongress, sagt sie.

Auch drüben auf der Zeltwiese macht man sich Gedanken zu Antisemitismus, wenn auch ganz andere. Auf einer großen Programmtafel ist mit rotem Edding für 5 Uhr nachmittags ein Workshop zu Antisemitismus angekündigt. Dutzende finden sich im Kreis auf dem Boden ein, um zuzuhören. Die Redner der linken und dezidiert antizionistischen jüdischen Gruppe „Jewish Voice for Peace“ haben alle Stoffmasken aufgesetzt und sprechen gedämpft ins Mikrofon. Sie fürchten, jemand von der Gegenseite könnte sie fotografieren, ihre Adressen herausfinden und ihren Familien drohen.

„Antisemitismus“, sagt jemand, „macht uns alle krank.“ Ein Mädchen mit Strubbelhaaren und einer Kippa in Wassermelonen-Look, das Symbol für palästinensischen Widerstand, spricht darüber, wie sehr der Holocaust immer noch präsent im kollektiven jüdischen Gedächtnis sei. Den 7. Oktober erwähnt niemand.

Jemand aus der Menge fragt, warum das Protestcamp die antisemitischen Slogans der vergangenen Tage nicht öffentlich verurteilt habe. Vor dem Campusgelände hatte jemand einer jüdischen Gruppe zugeschrien: „Geht doch zurück nach Polen.“ In den sozialen Medien kursiert ein Video,in dem eine mit Palästinensertuch vermummte Demonstrantin vor proisraelischen Demonstranten steht und ein Plakat in die Menge hält. Darauf steht. „Al Qassams nächstes Ziel“. Die Qassam-Brigaden sind eine militärische Unterorganisation der Hamas, die Israel vernichten will.

Auf die Frage antwortet jemand: Statt alles immer nur symbolpolitisch zu verurteilen, gäbe es jetzt dieses Briefing zum Thema „Antisemitismus“. Das sei viel effektiver

„Gibt es einen Weg, militanten Widerstand zu leisten, ohne antisemitisch zu sein?“, will ein Protestteilnehmer wissen. Auch darauf gibt es keine richtige Antwort.

Eine Person verhüllt in einem Schal mit israelischen Farben

Ein pro-israelischer Demonstrant auf den Straßen vor dem Columbia-Campus Foto: Mark Peterson/Redux/laif

Die Gesprächsrunde verläuft höflich, im „safe space“ und ohne jede größere Konfrontation. Allerdings auch ohne kontroverse Themen wirklich auszuhandeln.

Offenheit und Willen zu Lernen

Ist es möglich, inklusiv sein zu wollen und gleichzeitig drei Viertel aller Juden und Jüdinnen auszuschließen, die sich zionistischen Ideen auf die ein oder andere Weise zugehörig fühlen, mit ihnen aufwuchsen oder auch in der israelischen Armee dienten?

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„Nicht ideal“ wird Sam, 22, die Situation bezeichnen. Aber für ihn sei das gerade nicht die Priorität, die habe die Lage in Gaza. Mit Nuancen werde man sich später beschäftigen. Alle Studierenden, die sich auf Gespräche mit der Presse einlassen, wollen nur mit ihren Vornamen zitiert werden.

Als „viel zu simplistisch“ wird Aharon, ein israelischer Philosophiestudent mit bunter gestrickter Kippa die Diskussion um Antisemitismus am darauffolgenden Tag kritisieren.

Aharon ist in einer jüdischen Siedlung bei Jerusalem aufgewachsen. Heute ist er orthodox und links. Er steht vor dem Eingang zum Protestlager, neben ihm seine Mitbewohnerin, die bei all seinen Worten zustimmend nickt. Aharon leitet die Campus-Initiative „Jews for Ceasefire“ und arbeitet eng mit dem propalästinensischen Protestcamp zusammen, auch wenn er nicht dazugehört.

Seine Gruppe und das Protestlager arbeiten gemeinsam an einer Strategie, mit der Teilnehmende des Protestcamps in Zukunft für antisemitische Äußerungen verantwortlich gemacht werden sollen – allerdings bestehe auch unter Jüdinnen und Juden oft kein Konsens darüber, was als antisemitisch gelten soll und was nicht. Eine Distanzierung von den Strategien militanter palästinensischer Gruppen ist hier jedenfalls nicht zu hören.

Doch sagt Aharon, er „erlebe viel Offenheit und Willen, zuzuhören und dazuzulernen“. Die größte Trennlinie zwischen den beiden Gruppen sei, dass seine Gruppe der „Jews for Ceasefire“ Studierende, die sich als Zio­nis­t:in­nen bezeichnen, weniger rigoros zurückweisen würden als die propalästinensischen Aktivist:innen.

Sharif, 31, studiert Film in einem Masterstudiengang. Er sagt, er habe kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit Studierenden, die sich als Zio­nis­t:in­nen bezeichnen. Er sitzt auf einer Betonablage vor dem Eingang in die Zeltstadt. Längst sind fast alle Reporter abgezogen, Dämmerung bricht über den Campus.

Sharif trägt eine Kufija um seinen Kopf gewickelt, einen dichten schwarzen Bart und auch im Dunkeln noch eine schwarze Sonnenbrille, was ihn cool, aber auch ziemlich unnahbar erscheinen lässt. Er stammt aus einer ägyptischen Familie und wuchs in New Jersey auf, seit Jahren organisiert er Proteste. Bei diesem hier ist er verantwortlich für die Zusammenarbeit mit der Presse.

Jede Nacht bleibt er bis 3 Uhr morgens, führt Medientrainings mit den Protestierenden durch, schreibt Pressemitteilungen, beantwortet Fragen von Journalist:innen.

Aber für einen Pressesprecher, der „Kontext geben“ will, äußert er sich dann doch ziemlich undiplomatisch. Viele Zio­nis­t:in­nen auf dem Campus seien früher Soldaten der israelischen Armee gewesen, sagt er. Sie würden De­mons­tran­t:in­nen angreifen und dann behaupten, dass sie sich wegen des Antisemitismus „unsicher“ fühlten. „Du kannst nicht einen gewalttätigen Genozid unterstützen und dann behaupten, du fühlst dich unsicher“.

Sharif sagt auch, er hadere damit, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen, und sehe Israel dafür als Terrorstaat. Die Anschuldigungen, dass israelische Frauen am 7. Oktober vergewaltigt worden seien, hält er für unwahr. In Gaza hingegen gäbe es tatsächlich Vergewaltigungen der Soldaten an Frauen und Mädchen. Überhaupt konsumiert er Nachrichten nicht aus „Mainstream-Medien“, sondern nur aus den sozialen Medien.

Widerspricht man ihm, dann verliert er das Interesse am Gespräch, wird wortkarg, muss plötzlich gehen, spät sei es schon.

„Über Nacht Nahostexperten geworden“

Am nächsten Tag sieht der Campus anders aus. Jemand hat ein weites Rasenstück mit israelischen Fähnchen abgesteckt und rote Rosen auf eine Steinmauer gelegt, die im Laufe des Tages immer welker werden. Darunter hängen Fotos mit den in Gaza verschleppten israelischen Geiseln.

Allie, 24, Masterstudentin in Public Health, wird das alles nicht sehen. Wie viele ihrer jüdischen Freun­d:in­nen meidet sie diesen Teil des Universitätsgeländes seit dem 7. Oktober. Sie hat keine Angst um ihre körperliche Unversehrtheit. Aber sie fühlt sich dort nicht wohl.

Allie sitzt in einem Café außerhalb des Campus und nippt an ihrer Cola. Sie hat noch nie mit Jour­na­lis­t:in­nen gesprochen. Sie tastet sich langsam im Gespräch vor, wählt ihre Sätze behutsam, macht lange Pausen zwischen den Worten. Manchmal flüstert sie.

Allie ist in einer jüdischen und zionistischen Jugendbewegung aufgewachsen. Seit sie zurückdenken kann, beschäftigt sie sich als amerikanische Jüdin mit Israel. „Ja, vielleicht einseitig, aber trotzdem. All diese Protestierenden sind mit dem Krieg über Nacht Nahostexperten geworden und wissen jetzt über die Komplexität dort Bescheid?“

Einmal ist sie in Israel gewesen.Sie fühle Empathie gegenüber allen Menschen, Israelis wie Palästinensern, sagt sie. Aber nach dem 7. Oktober hörte sie, wie ein Pro-Palästina-Komitee das Gemetzel der Hamas als „Gegenoffensive“ bezeichnete.

Und ihre Freundinnen erzählten ihr, wie ein Columbia-Professor fast freudig auf die Attacke reagiert habe.Wie ihre Stimmen und Erzählungen im Unterricht abgewunken wurden. Wie in diesen Unterrichtsstunden Freundschaften an solchen Reaktionen zerbrachen.

Allie zog sich zurück, verkroch sich in ihre Gemeinschaft aus jüdischen Freundinnen und Freunden, denen sie vertraut und die ähnlich ticken wie sie.

Sie selbst habe keine konkreten Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, sagt sie. Es sei mehr ein Gefühl. Ihr linkes Auge füllt sich langsam mit einer Träne.

Allie hält nichts davon, De­mons­tran­t:in­nen festnehmen zu lassen. Aber auf dieser Wiese, auf der heute die Zelte stehen, soll in zwei Wochen ihre Abschlussfeier stattfinden. In Kalifornien wurde gerade die Abschlussfeier einer großen Universität mit 65.000 Teilnehmenden nach Zusammenstößen mit der Polizei wegen Sicherheitsbedenken abgesagt.

Für ihr Studium an der Columbia hat Allie einen Kredit von 130.000 Dollar aufgenommen. Zwei Jahre lang, sagt sie, habe sie sich auf ihre Abschlussfeier gefreut.

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