Deutsche Reaktionen im Ukrainekrieg: Zählt der Balkan?

Nach Putins Invasion heißt es: Wir haben gelernt. Wirklich? Warum übersieht die Außenministerin dann immer noch den Balkan und die Frauen?

Ukrainer mit Waffen in den Händen in Kiew

Mitglieder der Territorialverteidigung in der Ukraine Foto: Mikhail Palinchak/reuters

Die Geschwindigkeit, mit der Politik und Wirtschaft seit einigen Tagen Dinge tun, ist atemberaubend. Dinge, um die sie Leute, die Putin nicht unterschätzt haben, jahrzehntelang gebeten haben.

Was aber resultiert aus dem Satz, dass wir zu lange zugeguckt und Putin unterschätzt haben? Fragen einer lesenden Arbeiterin:

Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen von Gerhard Schröders Bundestagsbüro bitten ein paar Tage nach der Invasion Putins in die Ukraine darum, versetzt zu werden. Mit welchem Gewissen haben diese Mit­ar­bei­te­r*in­nen jahrelang für Schröder gearbeitet, und mit welchem Gewissen können sie jetzt noch irgendeinen anderen Job im Bundestag tun? Müssten sie sich nicht selbst in die Reihen der Zivilgesellschaft stellen und wenigstens Suppe austeilen, statt sich auf einen anderen warmen Bürostuhl in der Regierungskontrolle zu setzen?

Dieter Reiter, Oberbürgermeister von München, hat den Dirigenten Waleri Gergijew erst öffentlich an den Pranger gestellt und dann entlassen. War er nicht schon Oberbürgermeister, als der Dirigent eingestellt wurde und man genau wusste, was der denkt? Müsste sich nicht auch der Oberbürgermeister selbst öffentlich an den Pranger stellen und zurücktreten?

Viele Berichte, viele Fragen

Die Aussage des ukrainischen UN-Botschafters, Deutschland hätte den Krieg verhindern können, wird vom Bundeskanzler bis hin zu Pa­zi­fis­t*in­nen von sich gewiesen. Woher wissen diese Menschen, dass ein Swift-Ausschluss Russlands und das Einfrieren russischer Konten vor Putins Invasion keine Konsequenzen gehabt hätten?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die deutsche Außenministerin wird für ihre feministische Außenpolitik gefeiert, die darin bestehe, mit dem Verweis auf Mia, ein neugeborenes Baby in der Kiewer U-Bahn, die UN gegen Putin vereint zu haben. Wäre es nicht feministische Außenpolitik, die Namen von erwachsenen Frauen zu nennen, deren Handeln uns dazu bringen sollte, für ihre Zukunft zu kämpfen? Warum Mia und nicht Nika, eine Journalistin aus Kiew, die bleibt, weil sie ihre Oma und ihren Mann nicht alleine lassen will, die das Land nicht verlassen können? Warum Mia und nicht Julia, die weinende Lehrerin, die auf dem Foto der New York Times mit anderen Frauen zu sehen ist, wie sie mit Gewehren in den Händen darauf warten, als freiwillige Soldatinnen eingesetzt zu werden?

Die deutsche Außenministerin richtet starke Worte an den russischen Außenminister. Respekt! Aber wie kann es sein, dass sie vor den Vereinten Nationen erneut betonte, sie gehöre einer Generation an, die in Frieden aufgewachsen ist? Wo es doch ihr Parteikollege Joschka Fischer war, der vorstellbar gemacht hat, dass die Grünen Kriegspartei werden können. Muss der Satz, das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, seit Putins Invasion ergänzt werden: Das erste Opfer des Krieges ist der Balkan, der nicht zählt?

Immer, wenn es in diesen Tagen heißt: „eine historische Entscheidung“, gucken sich in Bosnien zwei Nachbarn an und sagen: Endlich handelt der Westen. Wenn die serbische Politik in Bosnien gerade ein und dasselbe Bedrohungsszenario wie Putin inszeniert, gucken wir dann so lange zu, bis es heißt: Wir haben zu lange weggeguckt?

So viele Berichte. So viele Fragen.

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Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.

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