Bundesregierung will Ruhe bewahren: Der Hitzkopf als kühler Kopf
Die Bundesregierung betont, sie bewahre kühlen Kopf. Dabei wirken ihre Schreckensbilder von den Folgen eines russischen Gasstops irre erhitzt.
Neulich ruft eine Supermarktkassiererin ihrem Kollegen gut gelaunt zu: „Drucks doch nicht immer so rum. Sprich einfach ganz normal mit mir!“ „Ich bin schüchtern“, antwortet er. „Du? Bist doch sonst so ein Hitzkopf“, sagt sie und fragt einen Kunden: „Was meinen Sie?“ „Ich bin auch schüchtern“, antwortet er. Und während alle lachen, noch: „Ich bin auch Team Kühler Kopf.“
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Vor wenigen Wochen hätte mir diese Szene nicht weiter zu denken gegeben, auch nicht der Umstand, dass der Kollege und der Kunde einen wesentlich geringeren Melaninanteil in Haar und Haut haben als die Kassiererin. Doch seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine sind meine Sensoren für deutsche Verdruckstheit in höchster Alarmbereitschaft. Zwanghaft unterziehe ich alles, was ich höre und sehe, einem Deutschtest. Dabei hatte ich diese Schnäppchenmarktsoziologie des „Typisch deutsch“-Urteils längst in mein persönliches Museum für Ur- und Frühgeschichte gestellt. Für Gegenwartsdiagnosen schien es mir eher unbrauchbar, unzureichend, unlustig geworden zu sein.
„Typisch deutsch“ meint: Lieber nichts als das Falsche sagen und schon gar nicht tun. Lieber Team Kühler Kopf als Team Hitzkopf. Lieber mal abwarten, als was riskieren. Lieber vor Hitler warnen, als Hitler bekämpfen. Lieber raushalten als einmischen. So ungefähr jedenfalls, denn so eine Landsleute-Pauschalisierung ist ja kein Laborwert.
Die deutsche Haltung irritiert im Angesicht des Ukrainekrieges inzwischen Leute, die eher konservativ als linksradikal sind, eher Systeme stabilisieren als stürzen wollen und von estnischen Politikern bis zu deutschen Ökonomen reichen.
Während sich die deutsche Regierung als Team Kühler Kopf inszeniert, stellt sie ihre Kritiker als unverantwortliche und ahnungslose Hitzköpfe dar. Dabei sind es die kritisierten Ökonomen, die kühlen Kopfes Modelle berechnen. Und es ist die Regierung, die immer erhitztere Szenarien entwirft: In den Debatten über Swift und Gashähne erwecken diese heißgelaufenen Horrorbilder den Eindruck, die drohende Verwüstung der deutschen Wirtschaft gleiche den Ruinen Mariupols am Tag 26 nach der Belagerung durch Putins Armee.
Die Rede von den „Hunderttausenden Arbeitslosen“ suggeriert, die 2020er könnten die 1920er Jahre werden, die Deutschen wieder Hitler wählen, wenn sie altes Brot essen und alte Klamotten auftragen müssen. Die einzige deutsche Firma, die diese Szenarien lautstark mitmalt? BASF. Ausgerechnet die deutsche Firma, die mit russischem Gas eng verbandelt ist und mit giftigem Gas historische Erfahrungen hat.
Das alles ist, um es typisch deutsch zu sagen: verstörend.
Die Mehrheit der Deutschen aber sind laut Umfragen zurzeit null hysterisch und sind bereit, für die Unabhängigkeit vom russischen Gas zu zahlen. Ist also der Finanzminister eher ein Hitzkopf als ein Kühler Kopf, da er die Ukraine völlig falsch einschätzte und keine Waffen liefern wollte? Ist der Wirtschaftsminister wirklich Team Kühler Kopf, wenn er den Verzehr von Mettbrötchen als Teil einer „Spur der Verwüstung“ bezeichnet, die wir alle täglich hinterließen, und damit ein Verbrechen assoziiert, das gerade Putin in der Ukraine begeht?
Mir wird zurzeit jedenfalls immer sehr heiß im Kopf, wenn ich deutschen Politikern zuhöre. Ich hoffe, die kommen bald wieder ins Team Kühler Kopf.
Leser*innenkommentare
Malkah
Naja, Team Kühler Kopf wird ganz schnell hochemotional wenn sie zur Unterstützung der Welt mal einen Vegi Day, Tempolimit oder Raumtemperaturabsenkung umsetzen sollen.
Material und - natürlich andere - Menschen in den Krieg zu senden tut aktuell den Wenigsten weh. Bequemlichkeit aufgeben steht aber auf anderem Blatt.
Das Thema Solidarität und Einstehen für Demokratie ist in satten reichen Ländern mit tatsächlich hohem Lebensstandard nicht so einfach umzusetzen, wenn da nicht autoritär durchgegriffen werden kann - und das auch nicht soll.
Was mich aber schon wundert: Die ganz-oder-garnichtFalle in der Debatte. Und der Militarismus. Und dieses Warten auf Vorgaben von oben.
Was mich nervt: Dass soviele eine Meinung aber die wenigstens eine Haltung haben.
Katastrophenschutz ist und bleibt eigene Handarbeit - egal ob es sich um eine humanitäre, demokratische oder ökologische Krise handelt.
Hannah Remark
Was mich stört, das Gas gestoppt werden soll, aber Uran nicht. Die EU bezieht aus Russland den größten Teil ihres Uranbedarfs für die ganzen Atomkraftwerke, heuchlerischer geht es nicht. Aber die doofen Deutschen sollen mal machen und die anderen EU Länder setzen weiterhin auf eine strahelnde Zukunft und finanzieren den Russlandkrieg mit den Uraneinkäufen.
Fezi
Die haben ja nun alle geschworen, Schaden von uns abzuwenden und haben dabei augenscheinlich nur den derzeit, vielleicht, drohenden Schaden der Energieknappheit im Blick.
Es wäre aber durchaus angemessen, sich auch mit den potentiellen Schäden, die in Zukunft aus dieser schwer erträglichen Zauderei erwachsen können, zu beschäftigen. Manchmal ist ein Ende mit Schrecken tatsächlich das geringere Übel als ein Schrecken ohne Ende. Wenn schon nur unter Übeln zu wählen ist.