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Afghanistan verschärft SchariaWer frei von Schuld ist …

Thomas Ruttig
Kommentar von Thomas Ruttig

Es ist erschreckend zu sehen, mit welcher Brutalität die Machthaber in Afghanistan ihr Volk unterdrücken. Doch auch der Westen hat keine weiße Weste.

Mit Frauenrechten nichts am Turban – Taliban in Kabul Foto: Ebrahim Noroozi/ap

M it ihrer Anordnung, nun Scharia-Körper- und -Amputations­strafen anzuwenden sowie auch bei Protest Hinrichtungen zu ermöglichen, setzt die Taliban-Führung einen neuen Tiefpunkt. Nach der beispiellosen Entrechtung von Frauen und Mädchen zeigt das Regime einmal mehr, dass ihm internationale Ächtung gleichgültig ist, auch für den Preis, dass es die Menschen im Land langfristig überlebenswichtige Entwicklungsgelder kostet.

Entrüstung über diese schrecklichen Bestrafungen ist mehr als angebracht, allerdings keine allzu leichte Erhebung darüber. Im Westen sollte man daran denken, dass man über Gräueltaten nicht erhaben ist. Gerade musste die britische Armee zugeben, dass sie bei Operationen im Afghanistankrieg mehr Kinder getötet hat als bisher bekannt. Gab es bei Kämpfen Tote, wurden in der Regel weitere Menschen verletzt, auch verbrannt oder anderweitig verstümmelt.

Für Familien, die solche Opfer zu beklagen haben, macht es keinen Unterschied, ob die daran Schuldigen bewusst gehandelt haben oder ob es ungewollt zu Opfern kam. Genauso spielt es für sie kaum eine Rolle, ob die Opfer in Kauf genommen wurden, ob die Täter zu einer parlamentarisch-demokratisch legitimierten Armee gehören oder einer selbstherrlichen Islamistentruppe.

Das gilt auch für die Bombardements 2009 in Kundus, angeordnet von einem Bundeswehrangehörigen, bei denen nachweislich Dutzende Zivilisten getötet wurden und deren Familien nie entschädigt wurden.

Unter denen, die sich nun im Exil über die barbarischen Taliban entrüsten, sind nicht wenige, die sich kürzlich noch in Regierungsverantwortung oder als Teil der Zivilgesellschaft für Hinrichtungen wirklicher oder vermeintlicher Taliban aussprachen, häufig nach durch Folter erzwungenen Geständnissen. Oder solche, die Bombardierung von Dörfern anordneten oder tolerierten, wenn sie nur in den von den Gegnern kontrollierten Gebieten lagen. An unseren Küsten waren davor Fliehende häufig nicht willkommen.

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Thomas Ruttig
Autor:in
Mitbegründer des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin (https://www.afghanistan-analysts.org/en/). Abschluss als Diplom-Afghanist, Humboldt-Univ. Berlin 1985. Erster Afghanistan-Aufenthalt 1983/84, lebte und arbeitete seither insgesamt mehr als 13 Jahre dort, u.a. als Mitarbeiter der DDR-, der deutschen Botschaft, der UNO und als stellv. EU-Sondergesandter. Seit 2006 freischaffend. Bloggt auf: https://thruttig.wordpress.com zu Afghanistan und Asylfragen. Dort auch oft längere Fassungen der taz-Beiträge.
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49 Kommentare

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  • Vorschlag zur Güte: Wir transferieren die WM nach Afghanistan. Dann müssen wir die taliban nicht mehr so neokolonial-afdhaft wegen ihren kulturellen Eigenheiten (Scharia) kritisieren, sondern können ordentlich losledern und wohlfühlboykottieren wegen des CO2-Verbrauchs der WM.

    Und in Katar geht der Robert dann ungestört Gas shoppen. Winwin!

  • Ich finde, dass das, was Thomas Ruttig schreibt, mit zum Besten gehört, was in der taz geschrieben wird.

    Deutlich wird in jeder Zeile, dass er weiß, über welches Region er schreibt.

    Um ein weiteres Beispiel zu geben:

    Der CIA nutzte Afghanistan, um Menschen in der Folter zu trainieren, wobei die Opfer allein aus Trainingsgründen schwere Gehirnschäden erlitten. Kein einziger der Täter ist bestraft, es herrscht komplette Straffreiheit.

    Ist das nicht mit die schlimmste Verachtung und Instrumentalisierung von Menschenleben, anderen Gehirnschäden zuzufügen, um Folterer trainieren zu können?

    Hier eine Quelle:

    www.theguardian.co...torture-techniques

    Da komplette Straffreiheit herrscht, kann es nicht als Einzelfall relativiert werden.

    Thomas Ruttig versteht, dass es sowohl die moralische Legitimation als auch die Effektivität zerstört, wenn Staaten, die solche Verbrechen begehen und ungeahndet lassen, im Anschein der eigenen moralischen Überlegenheit Menschenrechte einfordern.

    Hilfreich wäre, wenn sie Forderungen nach Menschenrechte mit der Ahndung, Aufklärung und Beendigung eigener Rechteverletzungen verbinden würden.

    In seiner radikal an der Wirklichkeit ausgerichteten Berichterstattung und Kommentierung entzieht Rutter sich der üblichen Relativierung von Menschenrechten, die darin besteht, dass selbst die allerschlimmsten Menschenrechtsverstöße denen letztlich zugestanden werden, die von anderen die Menschenrechte dennoch einfordern.

    Ich glaube, wir hätten weniger Taliban auf der Welt, wenn wir uns selbst nicht talibanartig verhalten würden.

    Jetzt geht es darum, dem afghanischen Volk in aller Weise beizustehen, ob bei der Lebensmittelversorgung, der Versorgung mit Medikamenten oder der Aufnahme ausnahmslos aller Geflüchteten.

    Das schafft gleichzeitig die besten Voraussetzungen, dass sich das afghanische Volk von dieser Gewaltherrschaft befreien wird.

    • 6G
      654782 (Profil gelöscht)
      @PolitDiscussion:

      Herr Gebauer, im Großen und Ganzen lässt sich ihr Kommentar logisch erschließen, aber dann torpedieren Sie mit einem Satz Ihre gesamte, sorgsam aufgebaute Logik, finde ich:

      „Ich glaube, wir hätten weniger Taliban auf der Welt, wenn wir uns selbst nicht talibanartig verhalten würden.” — schreiben Sie.

      Damit beißt den Hund sich argumentativ in den Schwanz. Sie reproduzieren zum einen den US-amerikanischen, undifferenzierten Terminus der „Taliban“, in den Tagen nach 9/11 in die Propaganda eingeführt, und stülpen den übelst konnotierten Begriff dann in der Inversion „uns“ über — wir seien „talibanartig“ und damit Schuld an den „Taliban“. Sie bedienen dabei ein vorurteilsbeladenes, verallgemeinerndes Klischee mit einem anderen.

      Nach einem aktuellen internationalen Ranking liegt Afghanistan unter dem Regime der Taliban in Sachen Rechtssicherheit zum Beispiel vor einem Regime, wie dem in Kambodscha oder Venezuela — und doch scheint Sie das überhaupt nichts anzugehen, beziehungsweise kämen Sie ja nicht im Traum darauf zu formulieren, dass es in Kambodscha weniger wie in Kambodscha zuginge, wenn wir uns weniger wie Kambodschaner benehmen würden.

      www.ucanews.com/ne...ustice-index/99259

      • @654782 (Profil gelöscht):

        ich verstehe Herrn Gebauer sehr gut. Es ist doch bekannt, für Sie noch mal zur Erinnerung, falls Sie jünger sind: Es waren die Amis, die die Mudschahedin, die Widerstandstruppe gegen die Sowjets aufgebaut haben, darin Figuren wie Osama Bin Laden, die Wahabiten etc., die Taliban sind nur eine spätere Absplitterung. Pakistan ebf unser Freund, verdient auch noch bes. Erwähnung.

        Sicher, die Afghanen haben auch Verantwortung für ihr Land. Aber mehr als 40 Jahre Krieg, oder sind es schon 50, haben nicht nur das Land zerstört, sondern auch die menschliche Substanz verheert. In einem Land in dem es praktisch über 2+ Generationen keine Bildung für niemanden gab (außer vllcht in den wenigen internat. kontrollierten Gebieten) und ständig Krieg, kommen, auch wenn man das nicht wahr haben will, solche brutalisierten Menschen raus, aber die internationale Staatengemeinschaft, besonders Sowjetunion/Russland, der Westen und im Schlepptau Katar, VAE u Saudi-Arabien tragen dafür ein gehöriges Maß an Mitverantwortung, wenn nicht die Hauptverantwortung (Stellvertreterkriege und so). Den daraus result. desolaten Zustand des afghan. "Staates" in Rechnung gestellt u die entsprechende Ohnmacht seiner Bürger gegen alle nur erdenklichen Warlords u ihre Truppen u hin und wieder auch westl. Truppen – plus Armut u Hunger in diesem extrem kargen Land (ich glaube 8% kultivierbares Land, Klimawandel noch nicht eingerechnet), ist es auch die Verantwortung dieser internationalen Gemeinschaft, trotz aller Empörung über die Taten der Taliban, dieses Land jetzt nicht mit sich allein zu lassen – eben weil beinahe alle menschlichen Ressourcen zerstört sind, kann dieses Land nicht mehr allein Verantwortung für sich übernehmen und braucht alle erdenkliche Unterstützung. Moralische Echauffierung allein bringt da keine Entwicklung mehr, zumal nach aller Erfahrung mit dem Ausland es nicht verwunderlich ist, dass dort kaum jemand oder niemand mehr etwas auf Belehrungen von uns gibt.

        • 6G
          654782 (Profil gelöscht)
          @ingrid werner:

          Wunderbar weit ausgeholt. Alles vortrefflich. (Jünger wäre ich gerne.)

          Es ging mir allein um die Begrifflichkeit. Bei dem Eingestehen unserer Mitschuld. (Wir sind Amerika.) Beim postkolonialen, postimperalisten Mea Culpa.

          Herr Gebauer hat das sehr gut gemacht. Allein: Beim Benennen für den Maßstab unserer Verbrechen fällt ihm kein anderes Wort ein als das diffamierend konnotierte Buzzwort für die Wilden: „talibanartig“.

          Wie gesagt: Die westliche Selbstkritik beißt sich dabei in den Schwanz — ach wären wir, die ansonsten doch so Anspruchsvollen, weniger wie die Barbaraen, dann produzierten wir auch weniger von dem Kroppzeug.

  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    "Für Familien, die solche Opfer zu beklagen haben, macht es keinen Unterschied, ob die daran Schuldigen bewusst gehandelt haben oder ob es ungewollt zu Opfern kam."

    Aber für die moralische und rechtliche Bewertung natürlich schon.

    • @650228 (Profil gelöscht):

      Es macht auch für die Familien einen Unterschied, ob jemand unbeabsichtigt bei einer Kriegsaktion getötet wurde oder ob jemand gerichtlich zum Tode verurteilt wird.

      Da hat sich Herr Ruttig vergaloppiert.

      • @rero:

        Also ich denke die Menschen vor Ort finden eine Zufallstötung eher schlimmer als eine überharte Strafe für einen Verurteilten. Diese Facette des Dronenkrieges ist ja gerade einer der Gründe, warum der Westen im diesen Regionen so verhasst ist. Für den aktuellen Weltfrieden mag es ja vorteilhaft sein, wenn Taliban trotz Kollateralschäden ausgeschaltet werden, vor Ort sind die Dinge dann aber anders gelagert, und es sind keine Einzelfälle. Fakt ist: 20 Jahre westlicher Gerechtigkeit haben mit der Machtübernahme gerade der brutalen Gruppierungen geendet, wegen der man 20 Jahre dort Personen mit Kollateralschäden ausgeschaltet hat.

        • @FancyBeard:

          Ein Gesetz, das grundlegende Menschenrechte vor allem den Frauen abspricht, betrifft alle in jeder Sekunde ihres Lebens. Denken Sie einmal nach. Dabei muss man nicht die Verbrechen des Westens verharmlosen; die sind aber anderer "Natur".

        • @FancyBeard:

          Was die Menschen vor Ort schlimmer finden, dürfte davon abhängen, wie sie zu den Taliban stehen und ob sie die Werte der Taliban und des Gerichtes eher teilen oder nicht.

          Aber einen Unterschied macht es in jedem Fall.

  • Was für ein seltsamer Versuch die Geschehnisse in Afghanistan zu relativieren.



    Sollen wir also die Stimme nicht erheben, wenn offenbar Unrecht geschieht - oder muss jeder Kommentar mit: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa einhergehen?

  • Es war zu erwarten, dass ein Artikel, der auch westliche Verbrechen in Afghanistan thematisiert (die Liste ist ja länger als die vom Autor erwähnten Beispiele und umfasst keineswegs nur "Kollateralschäden") für helle Empörung sorgt; der Anspruch moralischer Überlegenheit scheint so konstitutiv für das offiziös-westliche Selbstbild zu sein, dass schon ein Nachdenken darüber skandalisiert wird. Wer dann allerdings der übliche "Relativismus"-Vorwurf auspackt, versteht offensichtlich denn Sinn dieses Ausdrucks nicht: Der Artikel relativiert ja gerade nicht, sondern sagt, dass Verbrechen Verbrechen sind, egal wer sie verübt. Wenn man hingegen eigene Verbrechen verharmlost, indem man sich hinter den Taliban versteckt, dann ist das - genau: Relativismus. Die routinierten Abwehrreflexe in allen Ehren, aber so ungeschickte Ausflüchte machen die Diskussion fast langweilig.

    • @O.F.:

      Zu erwarten war, dass Sie Ihre ewige Litanei auch hier wieder zum besten geben, dass all die Verbrecherregime, sei es Russland oder eben die Taliban, am Ende doch nicht schlimmer sind als der Westen. Begründung mal wieder keine nachvollziehbare. So weit, so vorhersehbar, so langweilig.

      • @Fran Zose:

        P.S. Im übrigen möchte ich nicht nur darauf hinweisen, das meine Aussage eine andere war als von Ihnen behauptet, sondern auch, dass ich diese durchaus nachvollziehbar begründet habe - über Gegenargumente freue ich mich natürlich, aber ohne solche wird eine konstruktive Diskussion schwierig...

      • @Fran Zose:

        Aber es gibt ja doch bedeutende Unterschiede zw. Russland und solch abgetakelten Regimen wie den Taliban, die ja eher aus Mad Max entsprungen scheinen. Russland könnte sich schon noch mehr Einsichtsvermögen, Verantwortung usw leisten, niemand in Moskau musste ohne Bildung u genügend Nahrung in einer Lehmhütte oder Höhle aufwachsen. Die Taliban sind ja, angesichts der Geschichte, eher das Ergebnis derer, die in Moskau u USA in Parteischulen u Ivy-League Unis gegangen sind: Breschnjew, Rumsfeld und ihre geistigen Schüler

      • @Fran Zose:

        Zu der Gruppe mit beständig konsistenter "Nachvollziehbarkeit" gehört hier ganz besonders auch @O.F.

      • @Fran Zose:

        Schon wieder eine Unterstellung: weder ich noch der Artikel oben haben das behauptet; vielleicht lesen Sie beides noch einmal? Ich bin jedenfalls nich gewillt, auf Beiträge einzugehen, die mir etwas in den Mund legen und dann kräftig dagegen poltern.

    • @O.F.:

      "der Anspruch moralischer Überlegenheit" wird jedesmal dann reflexhaft als Vorwurf erhoben wenn irgendwer irgendwelche Dinge kritisiert die irgendwo in der Welt schief laufen, ganz so als müsste die knappe Milliarde Menschen im Westen ausnahmslos und zweifelsfrei das Leben von Heiligen führen um die Tätigkeit afghanischer Henker kritisieren zu dürfen. Das "offiziös-westliche Selbstbild" ist eine Fata Morgana an der sie sich abarbeiten, aber in der Realität ist die Öffentlichkeit doch ziemlich gut im Bilde über die Dinge die in allzu vielen westlichen Kriegen passiert sind und niemals hätten passieren dürfen, weswegen diese Dinge gemeinhin eben auch als Skandale thematisiert werden. Was also wollen sie? Eine Haltung die nur noch in Sack und Asche geht, aber zu den Greultaten der Gegenwart schweigt weil sie in Scham über die der eigenen Vergangenheit versinkt?

      • @Ingo Bernable:

        "Was also wollen sie?"- Intensität u Dauer der Befasstheit in gleichem Maße.

        • @Lästige Latte:

          Dieser Vorwurf doppelter Maßstäbe ist mE nur ein rhetorischer Move der so tut als ob gemeinhin nur mit einem Schulterzucken auf die Enthüllungen zu Abu-Ghraib oder Guantanamo reagiert worden wäre. Auch die zivilen Opfer der Bombardierung dieses Tanklasters sorgte für monatelange Empörung und Aufmerksamkeit obwohl man dies sogar militärtaktisch für geboten halten konnte. Aktuell geht es aber um Körper- und Todesstrafe durch die Taliban teilweise für Kleinigkeiten.

          • @Ingo Bernable:

            Ja. Und dabei sind vor allem Frauen und Mädchen betroffen. Die Verschärfung der Scharia ist schon eine eigenständige "Würdigung" wert. Ich frage mich, wieso ausgerechnet hier versucht wird, das mit Gräueltaten des Westens "aufzurechnen".

            • @resto:

              Wenn ich das noch einmal erklären darf: der Autor rechnet nichts auf, im Gegenteil: wenn überhaupt ist seine Aussage ja gerade die, dass alle Verbrechen auch als solche behandelt werden müssen.



              Eine "eigenständige Würdigung" afghanische Rechtssprechung hat der Autor ja auch veröffentlicht (ich habe sie unten verlinkt); in diesem Kommentar geht es um eine Diskurskritik, die die moralischen Rollenzuschreibungen, mit denen wir gerne operieren, in Frage stellt.



              In diesem Fall ist der Relativismusvorwurf besonders problematisch - nicht nur weil er selbst relativistisch ist, sondern auch weil er die eigene Selbst- und Fremdwahrnehmung gegen Zweifel immunisiert: man will, darf nicht in einem Atemzug über den Westen und die Taliban sprechen, weil damit das Gut/Böse-Schema, das wir so sehr internalisiert haben, angegriffen wird. Und das bringt mich zu meinem Ausgangspunkt zurück, dem nämlich, warum eine im Grunde harmlose Erinnerung daran, dass sich in Afghanistan alle Seiten schuldig gemacht haben, zu so gereizten (und oft auch unsachlichen) Reaktionen führt: weil der Anspruch auf moralische Überlegenheit konstitutiv für unser Selbstverständnis und unsere Art, über die Welt nachzudenken, ist. Dass die Realität eine ganz andere Sprache spricht, wird gerne verdrängt.

      • @Ingo Bernable:

        Danke. Sie haben den Kern dieser Haltung genau herausgearbeitet.

        Ich hingegen habe wieder mal nur polemisch herum geturnt.

        • @Jim Hawkins:

          Gelernt ist gelernt.

    • @O.F.:

      "Hinter den Taliban verstecken"

      Das ist immerhin originell.

      Ansonsten das übliche Oberstudienrats-Sprech.

      Das ist allerdings auch ziemlich langweilig.

      Ach ja, waren die Russen nicht auch einmal in diesem Land aktiv?

      • @Jim Hawkins:

        'Ach ja, waren die Russen nicht auch einmal in diesem Land aktiv?'

        In der Tat, das waren sie! Die allererste Demo meines Lebens, bei der ich aktiv mitmarschiert bin, war eine Demo gegen den Krieg in Afghanistan, die 'Russen raus aus Afghanistan'-Demo in Bonn 1980 anlässlich des Besuchs von Leonid Breschnew bei seinem Amtskollegen Helmut Schmidt.

        • @Magic Theo:

          Auch bei noch anderen Antikriegs-Demos?

          • @Lästige Latte:

            Mal überlegen ... als Ronnie und Gorbi sich in Reykjawik getroffen hatten, das muss so 1987 gewesen sein, gab es eine vom UStA/AStA organisierte Demo gegen den Atomkrieg, bei der war ich auch. Und in diesem Jahr dann bei der 'Russen raus aus der Ukraine'-Demo. Fazit: klares Ja, ich war auch noch bei anderen Antikriegs-Demos.

  • "Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein."

    Johannes 8,7.

    Was für eine aparte Überschrift für einen Artikel über das Geschehen in einem Land, in dem tatsächlich wieder Menschen gesteinigt werden sollen.

    Und der Autor sagt uns, das ist schlimm, aber wir tragen auch Schuld.

    Alle sind irgendwie schuld, wer weiß das schon so genau.

    Ich habe selten in so wenigen Zeilen so viel Relativierung und Verharmlosung gelesen.

  • Verstümmelung als ordentliches, staatliches, d. h. "wohl" organisiertes, verschriftliches Strafmaß ist barbarisch und kann nicht durch verbrecherische Gräueltaten durch wen auch immer relativiert werden.

  • Es ist niemals richtig Schuld gegen Schuld aufzurechnen. Terror und Unrecht der Taliban, in Puncto Frauenrechte, Folter und babarischen Strafen sind zu verurteilen und das bedingungslos! Die Frage des Unrechts durch Straftaten früherer Besatzer, auch nicht wieder gutgemachter Colateralschäden (man verzeihe mir den Euphemismus) unsererseits haben nichts damit zu tun, so wenig, wie ich mich darauf berufen kann, kein Knöllchen zu bekommen, weil neben mir auch andere im Halteverbot stehen. Das Unrecht damals ist ebenso zu verurteilen, doch gibt es hier keine Aufrechnung!

  • richtig, es macht keinen Unterschied von wem solche Verbrechen verübt werden. Für die Betroffenen sind sie immer katastrophal.



    Andererseits macht es einen Unterschied, ob solche Praktiken Teil der Rechtssprechung sind, wie hier in Afghanistan oder ob es von Regierungsstellen im Geheimen verübt wird.



    Verbrechen geschehen immer auch von Staatsseite aus, aber wenn diese Verbrechen legal sind und sogar angestrebt werden, ist das noch einmal eine gänzlich andere Qualität.

  • Was will uns der Autor damit sagen? Etwas das der Westen nicht besser ist als dir Taliban? Sorry, das ist gelinde gesagt Blödsinn; das ist nichts anderes als eine üble Relativierung und unzulässige Gleichsetzung. Das die Intention sehr wohl einen Unterschied macht, manifestiert sich schon in so gut wie jedem Rechtssystem in der Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz. In den Augen mancher ideologisch Verblendeter kann der Westen schlicht nichts richtig machen.

  • War das Töten von Kindern denn Ziel der britischen Militäreinsätze? Wiviele Stimmen im Westen sind der Meinung, dass das Töten von Kindern richtig und erstrebenswert sei? Oder auch nur das Foltern und Exekutieren von Taliban? Natürlich gab es auch auf westlicher Seite furchtbare Entgleisungen, aber man sollte schon auch berücksichtigen, dass die Gründe dafrü, dass die CIA ihre black sites im Geheimen betreiben musste, wohl darin lagen, dass sie von der Öffentlichkeit niemals akzeptiert worden wären.

    • @Ingo Bernable:

      Ich verstehe den Punkt des Autors auch nicht. Klingt als ob zu den Verbrechen der Taliban alle schweigen sollten, die nicht frei von Schuld sind.

      • @Abid Kidoh:

        Nun fordert der Autor nirgendwo zum Schweigen auf, sondern erinnert lediglich daran, dass die Taliban nicht der einzige Gewaltakteur in Afghanistan waren und sind; der Vorwurf, Verbrechen unter den Tisch kehren zu wollen, muss gerade auch an westliche Regierungen und an eine westliche Öffentlichkeit gerichtet werden, die ihre eigene schändliche Rolle gerne ausblenden bzw. kleinreden.

        • @O.F.:

          Der Autor betreibt hier eine schlicht unmoralische Relativierung. Intention ist wichtig; es ist der Unterschied zwischen Mord und fahrlässiger Tötung. Wenn mein Nachbar mein Kind tot fährt habe ich in jedem Fall einen Verlust der nie wieder gut gemacht werden kann. Aber es ist ein massiver Unterschied ob der Nachbar das aus Versehen beim Ausparken gemacht hat oder absichtlich auf Gas gestiegen ist.

          • @Bmit:

            Eigentlich sind gerade derjenige der relativiert, weil ihr Vorwurf auf der Behauptung beruht, westliche Kriegsverbrechen (die keineswegs nur Kollateralschäden waren) mit denen der Taliban zu vergleichen und damit als weniger verwerflich darzustellen. Genau das ist eine Relativierung. Der Autor des Artikels hingegen macht das nicht - er beschreibt Verbrechen als Verbrechen, egal wer der Täter war. Die Reaktionen darauf sind erstaunlich, aber leider keineswegs überraschend.

        • @O.F.:

          Nur sollte das separat geschehen; damit habe ich kein Problem Aber den Anlass der Verschärfung der Scharia dafür zu instrumentalisieren bzw. damit diese Brutalität zu relativieren, ist falsch.

          • @resto:

            Der selbe Autor hat ja auch gerade erst einen Artikel in der taz veröffentlicht, indem er dezidiert auf dieses Thema eingeht:



            taz.de/Justiz-in-Afghanistan/!5892356/



            Der Kommentar oben erinnert ergänzend dazu daran, dass Afghanistan von verschiedenen Gewaltakteuren heimgesucht wurde und wird; das finde ich wichtig, auch um der üblichen Diskursverengung zu entgehen, durch die meist eben doch nur die Verbrechen einer Seite (nämlich der anderen) zur Sprache kommen (sollen).

            • @O.F.:

              Es geht hier aber gerade nicht um Verbrechen.

              Es geht hier um die Rechtsprechung.

              Das ist ein markanter Unterschied.

  • Was soll so ein Kommentar? Ja wir sind alle schlecht und böse. Mehr lohnt sich nicht dazu zu sagen.

    • @Bär Lauch:

      "Wir sind allzumal Sünder..." übersetzte schon Luther...

      Sich die eigene Bosheit und Erlösungsbedürftigkeit einzugestehen ist schon mal ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das fällt keinesfalls leicht und verdient Anerkennung.

  • "Entrüstung über diese schrecklichen Bestrafungen ist mehr als angebracht, allerdings keine allzu leichte Erhebung darüber. Im Westen sollte man daran denken, dass man über Gräueltaten nicht erhaben ist."



    Vielleicht sollte man doch einen Unterschied machen zwischen den sog. Kollateralschäden und In-Kauf-Nehmen ziviler Opfer im Krieg einerseits und dem bewussten Foltern und Verstümmeln in sogenannten Friedenszeiten andererseits?



    Beides ist abzulehnen, aber wer hier keinen Unterschied macht, lebt in einer Kuschelblase.

    • @Encantado:

      Es geht keineswehs nur um "Kollateralschäden"; hier nur ein Beispiel für gezielte Kriegsverbrechen:



      taz.de/Kriegsverbr...hanistan/!5729873/



      Es stellt sich die Frage, wer hier in einer Blase lebt...

      • @O.F.:

        Doch, Herr Rüttig spricht nur von "Kollateralschäden", konkret der Briten.

        Lesen Sie den Artikel ruhig noch mal durch.

        Es geht nicht um Verbrechen an Kriegsgefangenen.

        • @rero:

          Ich glaube, hier versehen Sie den Artikel falsch: der Autor warnt davor, in allzu simplen moralischen Kategorien über Afghanistan zu sprechen, weil auch westliche Truppen in Verbrechen an der Zivilbevölkerung verwickelt waren; es stimmt, das seine Beispiele unglücklich gewwählt waren, weil es in beiden Fallen angeblich (!) Kollateralschäden waren; vielleicht wäre es in der Tat besser gewesen, auch gezielte Morde durch westliche Truppen zu erwähnen, aber im Grunde ist das nicht der entscheidene Punkt: der nämlich, dass Afghanistan von verschiedenen Gewaltakteuren heimgesucht wurde, nicht nur von den Taliban.

          • @O.F.:

            Doch, das ist der entscheidende Punkt.

            Dann kommt man nämlich auch zu einem anderen Schluss.

            Der Unterschied wird klar, wenn man die Intention betrachtet.

            Es ist ja nicht so, dass sich Herr Ruttig zufällig diese Beispiele gewählt hat.

            In seiner Position weiß man auch von den Fällen, die Sie erwähnen.

            Dass es in Afghanistan mehr Gewaltakteure gab als die Taliban und die möglicherweise nicht mal die Schlimmsten gewesen sein sollen, ist Allgemeinwissen.

            • @rero:

              Ich denke nicht, dass das der entscheidende Punkt ist; in dem Artikel geht es nicht um eine vollständige Bestandsaufnahme von in Afghanistan begangenen Verbrechen, sondern um eine Diskurskritik - daran nämlich, dass mit Afghanistan immer in starken moralischen Kategorien gesprochen wird, die scheinbar für das Gute kämpfende Kraft aber selbst blutige Hände hat. Dass man noch weitere Beispiele wählen könnte, die den Westen in einem noch schlechteren Licht erscheinen lassen, stimmt ohne Zweifel, aber das ist hier nicht der wesentliche Punkt.