Sitzplätze bei der Bahn: Fahrt schwarz, ganz legal
Will die Bahn ihre Sitzplätze nicht nur verteuern, sondern auch reduzieren? Die Aufregung ist groß. Höchste Zeit für die Verweigerung der Reservierung.
E rst bringt die Bahn halb Deutschland in Rage, weil sie die vergünstigte Sitzplatzreservierung für Familien abschafft. Und nun steht auch noch infrage, ob unser Lieblingstransportunternehmen künftig überhaupt noch genügend Plätze durch die Republik fährt. Zumindest laut Spiegel gibt es ganz geheime Pläne bei der Bahn, nach denen mehr als 20.000 Sitzplätze in Zügen gestrichen werden sollen. Was für eine bahnbrechende Idee!
Und bevor jetzt einer auf falsche Gedanken kommt: nein, es ist nicht daran gedacht, sie durch kostengünstige Stehplätze zu ersetzen. Es sollen einfach weniger und kürzere Züge eingesetzt werden. Damit noch mehr Menschen ihr Leben in vollen Zügen genießen dürfen?
Die Bahn hat die Spiegel-Kritik zurückgewiesen. Zwar würden tatsächlich weniger Plätze angeboten, aber für die Fahrgäste sei das von Vorteil. Doch der Eindruck bleibt: Die Bahn ist mindestens so genervt von ihrer Kundschaft wie umgekehrt.
Was da noch bleibt? Widerstand! Fahrt Schwarz! Also nicht komplett. Aber spart euch die teure Sitzplatzreservierung. Und steigt einfach ohne ein. Das wäre ein überfälliger Akt, aus mehreren Gründen.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
1. Sitzplatzreservierungen sind zwecklos
Der offensichtlichste liegt auf der Hand. Da heutzutage eh kaum noch ein Zug so ankommt, wie es im Fahrplan steht, sind Platzreservierungen für die Katz. Mal wird ein Anschlusszug nicht erreicht, mal wird ein Ersatzzug eingesetzt mit komplett anderer Sitzreihung, mal fällt der Zug komplett aus. Dann wird man vom immer freundlichen Bahnpersonal gebeten, sich selbst einen Platz zu suchen. Was häufig kein Problem ist, weil viele, die für den Zug gebucht hatten, ihn nicht erreichen können – und somit ihre Sitze frei bleiben.
Klar. Man kann sich im Falle eines Falles die Sitzplatzbuchungsgebühr erstatten lassen. Man kann sie sich aber auch von vornherein sparen.
2. Sitzplätze für Familien finden sich immer
Selbst bei Fahrten mit der ganzen Familie ist das Reisen ohne Reservierung kein Problem. Zugegeben, manchmal kann die heilige Familie dann nicht an einem Platz sitzen. Aber wer vom Fach ist, weiß: Das kann herrlich entspannen. Denn wenn Papa mit Kind 1 in Wagen 3 unterkommt, während Mama mit Kind 2 in Wagen 7 ein Plätzchen findet, dann ist zumindest der sonst allfällige Streit der Kleinen erstmal vom Tisch.
Und für alle, die doch unbedingt zusammensitzen wollen, hier noch ein Geheimtipp: Weil die Bahn so gnadenlos behindertenfeindlich ist, dass Rollifahrern selbst nach langfristigem und kompliziertem Vorantrag nur mit Glück ein Zutritt zum Zug gewährt wird, sind die geräumigen Plätze für Rollstuhlfahrer:innen meist frei. Da können die Eltern sitzen, während die Kleinen auf dem Boden ihr Lego ausbreiten. Wunderbar.
3. Sitzplatzreservierungen sind unsolidarisch
Sitzplatzreservierungen sind – man muss sich dessen nur bewusst werden – genauso unsolidarisch wie demonstrativ auf Nachbarsitzen platzierte Gepäckstücke in rappelvollen Zügen. Oder erst recht: wie alle Erste-Klasse-Waggons. Sie dienen nichts anderem als der Ausgrenzung. Nicht die, die einen Sitzplatz nötig haben, bekommen einen. Sondern die, die dafür zahlen können.
Früher hing in allen Bussen und Bahnen der vielleicht moralinsaure, aber dennoch treffende Hinweis: „Ich bin jung und mache gerne Platz“. Heute steht kein Schwein mehr auf, wenn der Vater mit dem Kleinkind kommt oder die alte Dame mit dem Krückstock. Platz machen? Wieso denn? Ich hab doch teuer dafür bezahlt. Und wer zu spät kommt, um eine Reservierung zu ergattern, den bestraft die Ignoranz der anderen.
4. Sitzplatzreservierungen sind das Gegenteil von Flexibilität
Immer wieder ist die Forderung zu hören, dass die Bahn die Sitzplatzreservierung doch automatisch in den Fahrpreis einkalkulieren solle. So, wie das bei Flugreisen ist. Und in anderen Ländern ja auch. Aber Flugreisen sind ja schon qua Ökobilanz unsozial. Und der Sitzplatzzwang in Nachbarländern degradiert die Bahnen dort zu einem Verkehrsmittel, das man nur nach monatelanger Vorplanung oder zu exorbitanten Preisen nutzen kann. Oder eben gar nicht, weil niemand mehr reingelassen wird, wenn alle Sitzplätze belegt sind.
In diesem Punkt ist die Deutsche Bahn unschlagbar. Weil man mit Flexpreis – oder der dank Bahnchaos inzwischen schon regelmäßigen Aufhebung der Zugbindung – in jeden Zug einsteigen kann, der da gerade kommt, bleibt Bahnfahren ein Akt der Spontanität, wie sie nicht mal Autofahrer:innen kennen, weil die dauernd im Stau hängen bleiben.
5. Eine Sitzplatzreservierungsverweigerung wäre revolutionär
Konsequent wäre es, wenn die Bahn ein Einsehen hätte und die Platzresevierungen abschaffen würde. Aber das wird sie natürlich nicht tun, solange ihre Mitfahrer:innen noch bereit sind, für eine Selbstverständlichkeit zu blechen. Also Bahnreisende aller Bundesländer: Sagt Nein! Seid nicht so reserviert! Fahrt ohne Ticket für den Platz! Eins für den Zug reicht allemal. Das ist recht und billig.
Laut einem Bonmot von Lenin brauchten die Deutschen einst noch eine Bahnsteigkarte, bevor sie mit revolutionärem Gelüste einen Bahnhof gestürmt hätten. Heute braucht man für eine kleine Bahnrevolution nur noch keine Sitzplatzreservierung. Wenn das mal kein Fortschritt ist.
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