Krieg im Nahen Osten: Definitionsmacht eines Genozids
Die Völkermord-Anklage gegen Israel erlebt eine Renaissance. Dieser Vorwurf ist haltlos – eine Replik auf einen Text in der taz.

I sraels vermeintlicher Genozid ist für manche Kritiker so alt wie das Land selbst: Der jüdische Staat soll schon seit der Staatsgründung 1948 einen Völkermord gegen die Palästinenser verüben. Und in den Tagen direkt nach dem 7. Oktober 2023, dem Hamas-Massaker, das sich überwiegend gegen israelische Zivilisten richtete, erlebte der Vorwurf eine Renaissance – noch bevor alle 1.200 Leichen und 250 Geiseln überhaupt gezählt werden konnten.
Inzwischen reicht selbst der Begriff Genozid nicht, um 16-monatigen Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza zu beschreiben, der mit einem Waffenstillstand und Geiseldeal am 19. Januar zunächst unterbrochen wurde, während über eine längerfristige Friedenslösung noch verhandelt wird. Nein, Israel begehe einen Ecozid, Scholastizid, Medizid, Urbizid und viele weitere Zide. Auch ein neuer Begriff kursiert, um dieses vermeintlich singuläre Ereignis der Menschheitsgeschichte zu beschreiben: der „Gazazid“.
Eine heftige Debatte entbrennt, ob Israel im Gaza-Krieg einen Genozid verübt habe. Die israelische Soziologin Eva Illouz kritisiert den Vorwurf im Dezember in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung als historisch falsch, unehrlich und antisemitisch. In der taz erschien im Januar eine Replik mit der Überschrift „Völkermord, im Ernst“, die Illouzs Argumentation moniert.
Es geht in diesem Konflikt zu selten um Fakten, dafür um jede Menge Superlative. Aber der Genozidvorwurf gegen Israel wird nicht wahrer, je öfter man ihn wiederholt. Und bei vielen scheint das Narrativ von vornherein gesetzt zu sein. Denn es würde das antiisraelische Bauchgefühl rückwirkend legitimieren, den Hass rechtfertigen. Erst nach dem Vorwurf wird nach vermeintlichen Belegen gesucht. Und wenn die Belege nicht reichen, wird die Definition eines Genozids so weit ausgedehnt, bis die passen könnte.
Genozid-Konvention von 1948
Ausgerechnet der jüdische Staat soll sich eben des Menschheitsverbrechens schlechthin schuldig gemacht haben, des Genozids – ein Begriff, der 1944 von einem jüdischen Juristen erfunden worden war, um die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten rechtlich zu erfassen und künftig zu verhindern. Die internationale Genozid-Konvention von 1948 spricht von Handlungen, die „in der Absicht begangen“ werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.
Ein Genozid ist also nicht von der Todeszahl abhängig, die in Gaza erschreckend hoch ist, sondern von der Intention. So weit, so richtig. Doch die Zahlen sind trotzdem hilfreich: Mehr als 48.000 Palästinenser in Gaza bis zum Waffenstillstand sind laut der von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde getötet worden, die zwischen Kämpfern und Zivilisten nicht unterscheidet. Belastbare, unabhängige Zahlen gibt es nicht. Viele berufen sich auf eine Korrespondenz im renommierten Medizinjournal The Lancet, die 186.000 Tote oder mehr für plausibel hält. Diese Korrespondenz ist allerdings keine Peer-Reviewed-Studie, sondern eine Art Leserbrief, und wurde in anderen Lancet-Korrespondenzen heftig kritisiert.
Dennoch: Für die Terrororganisation Hamas ist eine hohe Todeszahl Teil des Plans, um Israel unter Druck zu setzen. Und für Yahya Sinwar, bis zu seiner Tötung im Oktober Hamas-Chef in Gaza, sind die getöteten Palästinenser laut geleakten Nachrichten „notwendige Opfer“. Die Hamas verschanzt sich in Tunneln und ziviler Infrastruktur, sie gefährdet bewusst das Leben von Zivilisten. Dass Gaza in Schutt und Asche liegt, ist eine absolute Tragödie. Eine, für die die Hamas eine große Mitverantwortung trägt.
Verteidigung als legitimes Kriegsziel
Vor diesem Hintergrund ist es doch bemerkenswert, dass die israelische Armee nach eigenen Angaben 20.000 der schätzungsweise insgesamt 30.000 bis 35.000 Hamas-Kämpfer getötet hat. Diese Zahl ist wichtig, denn sie ist ein gutes Indiz dafür, ob die israelische Armee die Palästinenser in Gaza absichtlich vernichten will – also einen Völkermord begeht – oder sich gegen die Hamas verteidigt, was ein legitimes Kriegsziel wäre.
Und einiges spricht dafür, dass die Zahl der getöteten Hamas-Kämpfer stimmen dürfte. So ging das Institute for the Study of War in Washington im September davon aus, dass Israel nur drei der insgesamt 24 Brigaden der Hamas noch nicht besiegt hätte, auch wenn die Hamas weiterhin rekrutiert und ihre Strukturen wieder aufbaut. Auch die britische Henry Jackson Society kommt in einem im Dezember veröffentlichten Bericht zum Schluss, dass mindestens 40 Prozent ihrer Kämpfer von Israel getötet worden sind, was diese Zahl als glaubwürdig erscheinen lässt.
Entscheidend ist das Verhältnis zwischen getöteten Kämpfern und Zivilisten. Und hier ist es, wenn man die Gesamttodeszahl der Hamas-Gesundheitsbehörde größtenteils akzeptiert, aber statistische Ungereimtheiten herausrechnet, fast eins zu eins.
Laut dem Friedensforscher William Eckhardt waren zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert die Hälfte alle Kriegstoten Zivilisten. Der Londoner Thinktank Action on Armed Violence kommt zu dem Ergebnis, dass sogar 90 Prozent aller Verletzten oder Getöteten von Sprengstoffwaffen in bevölkerten Gebieten Zivilisten sind, deutlich mehr als in Gaza. Und so ähnelt der Krieg in Gaza nicht anderen Genoziden, sondern anderen Kriegen, vor allem im urbanen Raum. Das macht ihn nicht weniger furchtbar.
Internationaler Strafgerichtshof angerufen
Die israelische Kriegsführung in Gaza kann man dennoch kritisieren. Eine Recherche der New York Times im Dezember deckte auf: Israel schwächte nach dem 7. Oktober 2023 die Regeln für Luftangriffe auf Hamas-Ziele ab. So dürfen inzwischen bis zu 20 Zivilisten pro Angriff gefährdet werden. Das kann man als brutal und unverhältnismäßig kritisieren, die Absicht dabei bleibt jedoch, die Hamas zu bekämpfen – trotz teils menschenverachtender Aussagen diverser Politiker in Israel, die zu Recht scharf kritisiert werden müssen.Südafrika hat Israel dennoch vor dem Internationalen Strafgerichtshof des Genozids beschuldigt, ein Urteil wird es vermutlich erst in Jahren geben. Die regierende Partei des Landes, der African National Congress, pflegt übrigens seit Jahren Verbindungen zur Hamas, die er als legitime Befreiungsorganisation sieht. Inzwischen hat Irland die Klage unterstützt, doch das Land will eine neue Genozid-Definition, weil die jetzige laut Außenminister Michael Martin eine „sehr enge Interpretation“ sei.
Auf ein Urteil wollen manche Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen nicht warten. Amnesty International etwa. Im Dezember veröffentlichte die Kampagnenorganisation einen Bericht, auf den sich viele nun beziehen, der auch Genozid neu definiert: Eine genozidale Absicht müsse „holistisch“ betrachtet werden, Genozid müsse nicht die einzige Intention sein, „sie kann mit militärischen Zielen koexistieren“, heißt es. Amnesty Israel distanzierte sich davon und wurde daraufhin für zwei Jahre von der Mutterorganisation suspendiert.
Im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel gibt es aber sehr wohl eine genozidale Absicht, die keine neue Definition erfordert: Daraus macht die Hamas keinen Hehl, es steht offen in ihrer Gründungscharta. Und am 7. Oktober 2023 versuchte sie schwer bewaffnet so viele Menschen in Israel wie möglich zu ermorden. Sie filmte sich sogar dabei, um es der Welt stolz und in aller Deutlichkeit zu zeigen.
Auch einige der rund 250 Geiseln, die sie nach Gaza verschleppten, ermordeten die Terroristen kaltblütig: Die Bibas-Kinder – erst neun Monate und 4 Jahre, als sie entführt wurden – sind laut forensischen Untersuchungen in Israel nach ihrer Leichenübergabe Ende Februar, die mit ausländischen Geheimdiensten zur Verifizierung geteilt worden sind, „mit bloßen Händen“ ermordet worden. Und dahinter steckt eine glasklare Intention.
Nach dem Waffenstillstand im Januar trauert die Hamas nicht um einen „Genozid“, sie sieht sich auch nicht als Verlierer. Sie feiert immer noch schwer bewaffnet und in frisch gebügelten Uniformen den Sieg gegen den „Nazi-Zionismus“ in zynischen Propagandazeremonien, während sie bis heute 59 Geiseln gefangen hält. Den 7. Oktober, den sie als „Al-Aqsa Flut“ verherrlicht, zelebriert sie als Erfolg. Und immer wieder betont sie: Sie würde es nochmal tun.
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