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Sturz des Assad-RegimesFreut euch über Syrien!

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?

Damaskus, Syrien, 13. Dezember: Freude beim Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee Foto: Ammar Awad/reuters

L enin soll einst gesagt haben, eine Revolution in Deutschland sei unmöglich, weil die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie einen Bahnhof stürmen. Gut 100 Jahre später gibt es in Deutschland gar keine Bahnsteigkarten mehr und die Deutschen erkennen eine Revolution nicht einmal, wenn sie in Echtzeit auf ihren Smartphones zugucken. Die syrische Revolution, also der Sturz des faschistischen Assad-Regimes durch Rebellen unter dem Jubel der Bevölkerung, ist das schönste Ereignis des unschönen Jahres 2024, aber der deutsche Blick darauf ist vor allem von Negativität geprägt.

„Dschihadistische Milizen“ hießen die syrischen Rebellen von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zu Beginn ihres Feldzuges tagelang in allen großen deutschen Medien. „Islamisten stürzen Syriens Diktator – Einheiten der Terrormiliz HTS kontrollieren die Hauptstadt“ titelte zu Ende ihres Feldzuges die Süddeutsche Zeitung, Deutschlands auflagenstärkstes überregionales Qualitätsblatt. „Wer kommt nach Assad? In Syrien herrscht Chaos“, schreibt eine Woche später die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Spiegel titelt „Das syrische Experiment“, die Zeit fragt: „Wie lange hält der Jubel?“.

Und das ist nur der vermeintlich aufgeklärte Mainstream. Am politischen Rand sieht es ganz finster aus. „Gelegenheit macht Diebe: Kommt nun der Asyl-Pendelverkehr zwischen Syrien und Deutschland?“, fragt die neurechte Junge Freiheit, „Westen sucht Kontrolle“ und „Werben um Dschihadisten“ konstatiert die vermeintlich linke Junge Welt.

Bloß nicht freuen, bloß nichts Positives sehen: Das ist der gemeinsame Unterton. Begeisterung? Um Gottes willen, es sind doch Araber und Muslime, seit dem 7. Oktober 2023 weiß man da Bescheid. Es wird geraunt und sich gefürchtet, HTS wird mit dem „Islamischen Staat“ verwechselt, Fake News machen die Runde, die syrische Revolution wird im gleichen Atemzug als dschihadistische Machtergreifung und als zionistisches Komplott verunglimpft.

Die Rebellen richten gar kein islamistisches Terrorregime ein? Sie „geben sich gemäßigt“, heißt es dann. Christen können sich frei betätigen? Na ja, man weiß aber nicht, was kommt. Kurden werden von protürkischen Milizen angegriffen? Da sieht man doch, wo das alles hinführt. Syrer, die in Deutschland feiern? Raus!

„Islamisten“ sind bekanntlich die Bösen, sie wollen einen Gottesstaat, sie herrschen mit Gewalt, man kann ihnen nicht trauen. „Syrische Islamisten“ wurden schließlich schon mehrfach als mutmaßliche Terroristen in Deutschland aufgegriffen. Die HTS ist als Terrororganisation gelistet, es laufen vor deutschen Gerichten Prozesse wegen HTS-Unterstützung.

In der Ungewissheit liegt die Chance

Zur Erinnerung: Das Terrorregime in Syrien war jenes Regime, das gerade gestürzt worden ist. Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz, sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu gründen, plural und vielfältig. Und zugleich muss eine Staatsmacht die administrativen Strukturen wiederherstellen und die Weichen für ein auf Dauer freies Syrien stellen.

Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht. Aber genau darin liegt die Chance. Es ist nichts vorbestimmt. Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989 liegt genau darin – in dieser Offenheit, die Kräfte freisetzt und Utopien möglich macht.

Dafür muss sich der Rest der Welt massiv engagieren, und zwar nicht zur Wahrung eigener Interessen, wie es die Türkei und Israel gerade tun, sondern mit derselben Begeisterung wie die Menschen in Syrien selbst und mit Begeisterung für diese Menschen.

Die einst gegen Assad verhängten Syrien-Sanktionen müssen fallen. Die geschlossenen Botschaften müssen wieder öffnen, der syrischen Diaspora muss Reisefreiheit gewährt werden, die Verbrecher müssen vor Gericht kommen, der Wiederaufbau muss starten. Es geht nicht nur um den „Schutz von Minderheiten“, wie es mantraartig oft heißt. Es geht um den Schutz des gesamten syrischen Volkes.

Europa darf jetzt nicht abwarten

Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft.

Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten. „Assad oder wir verbrennen das Land“ war die Parole der Mordmilizen, die Syrien in Schutt und Asche legten und vor denen Millionen nach Europa flohen. Die Mörder hielten Wort – und sind doch gescheitert. Jetzt gilt es, gemeinsam das verbrannte Land aus der Asche zu heben.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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6 Kommentare

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  • "Wo bleibt die Begeisterung?"

    Vornehmlich in Syrien und vielleicht ist das auch gut so. Die "westliche" Freude über den Arabischen Frühling hat auch nicht geholfen. Mehr als schwache Hoffnung ist zumindest bei mir nicht drin so lange die Religion immer noch vor Freiheit steht.

    "Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989"

    Wie bitte?! Das ist das erste Mal, dass mir dieser Vergleich begegnet ist, und ich halte ihn gelinde gesagt für einigermaßen weit hergeholt. Den passenden, ernüchternden Vergleich habe ich oben genannt.

    "Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten."

    Ausgerechnet Europa, abzüglich der Türkei, hatte in Syrien bisher rein gar nichts zu melden. Und daran hat sich rein gar nichts geändert. Die Aufnahme der Flüchtlinge war eine Übung in Menschlichkeit, mehr nicht. Es war kein Handel, in dem man sich Einfluss auf Entwicklungen in Syrien erkauft hätte.

    Bei aller berechtigter Kritik an haarsträubenden Abschiebereflexen einiger Politiker, man sollte sich der Realität stellen, dass Europas Einfluss mehr oder weniger bei den Sanktionen und der Asylfrage endet.

  • Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft.



    Das Dilemma des Westens nicht nur in Syrien.

  • Ja, grundsätzliche Freude über einen Diktator weniger!

    Für die Zukunft scheint es aber ebenfalls Gründe für vorsichtigen Optimismus zu geben. Die HTS hat ja nicht vor zwei Wochen Kreide gefressen, sondern schon während ihrer Zeit der Kontrolle über Idlib bereits eine "säkulare und effiziente Verwaltung" (Zitat taz) aufgebaut, also ohne Scharia.

    Sie müssen darauf aufbauen und sehen, dass die extremistischen Gruppen in ihrer Allianz nicht putschen.

  • Vielleicht sollten Sie ihrem Berufsstand mal Supervision vorschlagen, das kann die eigene Haltung nachdrücklich verbessern.



    Ansonsten teile ich ihre Einschätzung einer mangelnden Empathie, richtig angewidert hat mich die erste öffentliche Einlassung von Jens Spahn nach dem Sturz von Assad.



    Manchmal denke ich , die Deutschen interessieren sich hauptsächlich fürs Biertrinken und Geldmachen. Und Fußball.



    Armes Deutschland.

  • Danke, Herr Johnson, für Licht zur Klarstellung und Motivation!

  • Grund zur Freude sehe ich eigentlich nur für hereosexuelle muslimische Männer. Für alle anderen Gruppen sind ja schon die ersten Tage der neuen Machthaber wegweisend.



    Ich hoffe ob der in wenigen Monaten sicher einsetzenden erneuten Flüchtlingsströme aus Syrien, dass wir diesmal etwas über die Region gelernt haben und eine Frauenquote einführen um uns wirklich mal ausnahmsweise der vulnerablen Gruppen anzunehmen.