Diktatur der Mehrheit

AfD und BSW streben einen starken, autoritären Staat an, der durchgreift. Genau das spricht viele Menschen im Osten an, denn das kennen sie noch aus der DDR

Illustration: Katja Gendikova

Von Ilko-Sascha Kowalczuk

Die DDR ist mittlerweile bunt und pluralistisch wie nie zuvor. Fast täglich erscheinen neue Publika­tio­nen, die eine faszinierende Gesellschaft malen. Der SED-Staat wird als Kulisse gezeichnet, um die sich die Gesellschaft anscheinend wenig gekümmert hat. In Spielfilmen kommt meist eine lustige, sich behauptende Gemeinschaft vor, die den Staat verachtet und sich von diesem nicht unterkriegen lässt. In den sozialen Medien gibt es unzählige Erinnerungsgruppen, in denen alles rosarot gezeichnet wird. Millionen schwelgen in Erinnerungen, die sie in eine Zeit zurückversetzen, die solidarisch, warm und vor allem eines war: sicher.

Wenn sich eine Mehrheit der Ostdeutschen an der Freiheitsrevolution 1989 gegen den SED-Staat beteiligt hätte, müsste man heute fragen, ob diese Mehrheit es bereut. Doch die Frage ist sinnlos, denn an der Freiheitsrevolution beteiligte sich nur eine Minderheit. Es ist eine Banalität: An Revolutionen beteiligen sich immer nur Minderheiten. Die große Mehrheit wartet ab und schlägt sich rasch und voller Überzeugung auf die Seite der Sieger. Das war 1989 nicht anders. Als Anfang November 1989 klar war, wohin die Reise gehen würde, entschied sich die Mehrheit, nun auch gegen den Staat dabei zu sein. Millionen aber blieben ihm treu – das wird gern vergessen.

Die echten Revolutionäre wollten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Befreiten wollten volle Geschäfte und die D-Mark. Das ist nicht verwerflich, veränderte aber die Geschäftsgrundlage. Der tiefste Einschnitt in der ostdeutschen Revolutionsgeschichte war nicht der Mauerfall am 9. November oder der Wahltag am 18. März, sondern der 1. Juli 1990 – die Einführung der D-Mark in der DDR, verbunden mit der Übernahme der bundesdeutschen Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung.

Was nun passierte, hatten die Befreiten nicht erwartet. Sie bauten Trabis und Wartburgs, wollten aber selbst VW und Mercedes fahren. Sie kauften ihre eigenen Produkte nicht mehr. Der im ­Osten bis heute weitverbreitete Hass auf die Treuhand – die natürlich viele Fehler machte – war schon immer eine Form von Selbsthass. Wer auf die schnelle Einführung der D-Mark setzte – und das waren nun einmal etwa 80 Prozent der ­Menschen –, hätte auch damit rechnen ­können, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. ­Haben damit viele gerechnet? Die meisten glaubten wohl, an ihnen würde der Kelch vorübergehen.

Den Einigungs- und Transformationsprozess begleiteten viele Fehler. Aber lief die Einigung so ab, wie es der Literaturprofessor Dirk Oschmann in seinem Wutseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ behauptet? Die Ostdeutschen nur als Opfer und Objekte der Geschichte? Nein, sie waren weder das eine noch das andere. Sie haben selbstbestimmt entschieden, dass das Westgeld so schnell wie möglich kommt. Damals haben besonnene Köpfe davor gewarnt, die Folgen der schnellen Einführung der D-Mark wären ­unüberschaubar und kaum beherrschbar. Das wollte kaum jemand hören. Im Osten galten die mahnenden Stimmen quasi als Kommunisten, im Westen wurden sie als vaterlandslose Gesellen abgetan, und gesamtdeutsch galten sie als Einheitsfeinde.

Die Ostler, die etwa aus der Bürgerbewegung kamen und vor der sofortigen Einführung der D-Mark warnten, unterschieden sich in einem Punkt tatsächlich grundlegend von der Mehrheit der DDR-Menschen: Sie besaßen ein anderes Staatsverständnis. Sie glaubten, dass Freiheit und Demokratie einen Staat benötigen, der die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten nicht sanktioniert, sie hofften auf einen Staat, der nicht autoritär, nicht paternalistisch ist.

Die Masse der Ostdeutschen aber meinte 1990: „Helmut, nimm uns an die Hand, und führe uns ins Wunderland.“ Sie wollten alles sofort. Und der Bundeskanzler? Kohl versprach, es genau so zu richten: blühende Landschaften in drei, fünf, sieben Jahren. Woher sollte die Mehrheit der Ostdeutschen auch wissen, dass „­Vater Staat“ ein ­Konstrukt des 19. Jahrhunderts war und der Staat nicht zum Selbstzweck existiert, sondern die Rahmenbedingungen einer offenen Gesellschaft bietet? Die Westdeutschen mussten das nach 1945 auch erst mühsam erlernen.

Demokratie und Freiheit sind keine hohlen und leeren Begriffe. Aber sie müssen erlernt werden, immer wieder neu. Doch in den Jahren nach 1990 gingen Ost- wie Westdeutsche davon aus, Freiheit und Demokratie seien selbsterklärend. Sind sie aber nicht. Und niemand brachte den Ostdeutschen nahe, dass das Leben in der Freiheit weitaus anstrengender ist als in der Diktatur. Ständig muss man Entscheidungen treffen, „ich“ sagen, sich in seine Angelegenheiten einmischen. In der Diktatur übernimmt das alles der Staat. Die Regeln waren einfach und überschaubar: Tu einfach, was man dir sagt! Und „man“ ist der Staat.

Niemand bemerkte, dass die Mehrheit der Ostdeutschen nach 1990 genau dieses paternalistische Staatsverständnis weiterhin pflegte. Es war nicht nur Helmut Kohl, der sich entsprechend aufspielte. Die berühmtesten Ministerpräsidenten in Ostdeutschland nach 1990 – Kurt Biedenkopf in Sachsen, Bernhard Vogel in Thüringen, Manfred Stolpe in Brandenburg – agierten genau nach dem gleichen Muster: als paternalistische Herrscher, die ihre Landes„kinder“ umsorgten.

Foto: Gerhard Leber/imago

Ilko-Sascha ­Kowalczuk

ist Historiker und Publizist, Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. Am 21. 8. erscheint sein neues Buch: „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“.

Es war Uwe Johnson, der bereits 1970 klarsichtig anhand ostdeutscher Flüchtlinge im Westen festhielt: Sie kamen in den Westen, und viele von ihnen redeten über den SED-Staat, als handele es sich um einen Teil ihrer Familie. Dieser Essay von Uwe Johnson gehört zum Klügsten, was je über Ostler im Westen geschrieben worden ist. Und er bleibt bis heute aktuell.

Heute können wir beobachten – und das beobachten bislang kaum irgendwelche viel gefragten Beobachter –, dass grundlegende Unterschiede zwischen Ost und West vor allem darin bestehen, was vom Staat erwartet wird. Es gibt viele Differenzen zwischen Ost und West. Die wird es auch in vielen Jahren noch geben, und sie sind nicht einmal problematisch. Anders sieht es mit den staatspolitischen Vorstellungen aus. Im Osten überwiegen Staatsvorstellungen, die an autoritäre Modelle erinnern, an einen starken Staat. Das ist ein grundsätzliches Problem – zumal sich solche Vorstellungen wie ein Virus auch im Westen Europas verbreiten.

Und genau an dieser Stelle setzen AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) an. Das eine oder andere mag beide Parteien voneinander unterscheiden, aber in einem zentralen Punkt sind sie sich einig: Sie erstreben einen starken, autoritären Staat, der die Gesellschaft einhegt, bevormundet und homogenisiert. Das sprechen die Führungsfiguren beider Strömungen aus. Die AfD weitaus offener als das BSW, aber auch hier benötigt man nur Grundkenntnisse politologischer Theorien, um das decodieren zu können. Und daher ist auch ihre Nähe zu Russland oder China kein Zufall. AfD wie BSW streben das „Durchgreifen“ an, einen Staat, der sich an seinen eigenen Bedürfnissen orientiert und nicht an denen der Gesellschaft.

Die Masse der Ostdeutschen meinte 1990: „Helmut, nimm uns an die Hand, und führe uns ins Wunderland“

Was dabei herauskommen wird? Das ist schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich eine „Diktatur der Mehrheit“, etwas, das John Stuart Mill oder ­Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert bereits als eine sehr große Gefahr der Demokratie konstatierten. Ein Blick nach Ostdeutschland könnte ein Blick in die Zukunft sein: Genau das droht hier nämlich unter dem vermeintlichen Vorzeichen, die Demokratie retten zu wollen. Den meisten ist diese „Diktatur der Mehrheit“ gar nicht als Problem bewusst. Tatsächlich will im Osten nur eine winzige Minderheit die DDR zurückhaben, so, wie sie war.

Eine größere Minderheit sehnt sich nach einer DDR, wie sie erinnert wird, wie sie aber nie existiert hat. Die Mehrheit aber strebt einen Staat an, der stark und autoritär die Angelegenheiten im Sinne des „gesunden Menschenverstands“ (Lieblingsformulierung von Populisten wie Extremisten jeder Couleur) regelt und allein den Wünschen einer Mehrheit seinen Dienst erweist, verbunden mit der Unterdrückung von Minderheitenpositionen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies bald zu einer gesamtdeutschen und gesamteuropäischen Realität werden könnte. Das wäre ein später Sieg der DDR – und ein mit unübersehbaren Folgen verbundener für den Kreml. Die Freiheit lässt sich nur in der Freiheit verraten – wir könnten gerade Zeugen davon sein. Noch ist es nicht zu spät, um nicht wie anderswo hautnah und schmerzhaft zu erfahren, dass Freiheit wichtiger als Frieden ist, weil es ohne Freiheit keinen inneren und keinen äußeren Frieden geben kann.

Wir brauchen keine Diktatur der Mehrheit, keine Konsensgesellschaft, sondern gelebte Freiheit und Demokratie. Und das ist die faire, demokratische Aushandlungsarena, die Kompromisse sucht. In dieser Arena unterstellen sich die Kontrahenten gegenseitig, das Beste für alle zu wollen; als politische Gegner lehnen sie zwar Mittel, Methoden und Ziele der anderen gegenseitig zum Teil ab, aber sie behandeln sich gleichrangig als demokratische Partner. Im Osten hingegen vereinen AfD und BSW mittlerweile etwa 50 Prozent der Menschen hinter sich mit ihrer Feindideologie – die lässt keine Kompromisse zu und strebt die völlige Neuordnung an. Das erinnert ebenfalls an die DDR und den Kreml. Dagegen kann nur helfen, dass die Demokraten gemeinsam gegen die potenziellen Mehrheitsdiktatoren zusammenstehen und koalitionsfähig bleiben.